Die Nacht des Schierlings
vorkommen, dass er dort eine besonders grimmige Entschlossenheit fühlte, doch beides entsprach nicht seinem Ideal der Sachlichkeit. Nun gut, ein hehres, unerreichtes Ideal, nach dem er noch unermüdlich strebte. Er nahm seine Arbeit sehr ernst und empfand sie zugleich als Ehre und Verpflichtung. Jedenfalls meistens, nämlich wenn seine Seelenstärke dazu ausreichte. Heute war er stark, so ein Tellerchen mit Konfekt konnte seinen Blick nicht trüben, seine Urteilskraft nicht schwächen. Allerdings war es wohl das Köstlichste, was Wagner jemals hatte probieren dürfen.
«Ihr solltet auch von diesem versuchen.» Madam Hofmann griff nach einer kleinen, für eine solche Küche ungewöhnlich eleganten silbernen Zange und legte ihm eines der größeren Pralinés auf seinen Teller. «Die Füllung ist eine Komposition von Marzipan, geriebener Walnuss, feingehackter grüner Mandel von der Levante, einer Winzigkeit Pomeranzenmus, zwei, drei Gewürzen, die ich Euch nicht verraten darf. Der alles umhüllende feine Teig ist mit puderig geriebenen Schokoladekernen aromatisiert, er wird Euch auf der Zunge zergehen.»
Sie reichte Wagner eine zierliche Gabel, die süße Köstlichkeit war zu groß, um sie manierlich ganz in den Mund zu stecken, und nickte ihm aufmunternd zu. Wagner fühlte sich plötzlich gar nicht gut. Natürlich würde er das Konfekt probieren, es sogar bis auf den letzten Krümel aufessen und zutiefst bedauern, dass es sich nicht schickte, eines davon einzupacken, um Karla damit zu überraschen, wenn seine Frau endlich wieder heimkam. Vielleicht würde die Meisterin von selbst – nein, das war ein sträflicher Gedanke. Eine kleine Bewirtung für den schwer arbeitenden und den ganzen Tag von Pontius zu Pilatus rennenden Weddemeister war etwas ganz anderes, als ein Geschenk anzunehmen. Er war unbestechlich, was nicht immer leichtfiel, und würde es bleiben. Nicht einmal den Anschein von Parteilichkeit, von Freundschaftlichkeit gar, wollte und durfte er geben.
Andererseits sah er, wie stolz Madam Hofmann auf ihr Konfekt war und wie es ihr von Trauer und Schlaflosigkeit gezeichnetes Gesicht belebte, als sie es offerierte. Er kannte sich aus mit solchen Gesichtern, dass sie in seiner Gegenwart heiterer wurden, erlebte er selten. Also aß er das Konfekt und fühlte sich wieder gut dabei.
«Das mit der Schokolade», erläuterte Madam Hofmann, während er nur mit Mühe verhindern konnte, vor Genuss zu seufzen, «ist, wie die meisten anderen, dem Einfallsreichtum meiner Tochter zu danken. Sie versucht nun, einen Überzug aus Schokolade herzustellen, so wie er bei diesem aus Marzipan gemacht ist.» Sie zeigte mit der Zange auf ein von einer glasierten Mandel gekröntes weißes Praliné. «Aber die Schokolade allein wird nicht fest, deshalb …»
«Der Weddemeister will unser Konfekt sicher gern genießen», Molly legte leicht ihre Hand auf die Rechte ihrer Mutter, «unsere Rezepte und die Arbeit in der Backstube werden ihn weniger interessieren.»
Ob er wollte oder nicht, Wagner fühlte sich sanft gemaßregelt. Was die Jungfer sagte, war völlig richtig, nur hätte es aus seinem Mund kommen müssen. Der war leider zu sehr mit dem Genießen beschäftigt.
Er schluckte eilig den Rest des in der Tat unglaublich köstlichen Pralinés herunter und nickte würdig. «Sehr wahr, Jungfer Runge, sehr wahr. Gleichwohl, ich bin Euch verbunden, Madam, tatsächlich», er zog sein stets griffbereites großes blaues Tuch aus der Tasche – er brauchte dringend ein frisches, hoffentlich fand er zu Hause noch eines – und wischte sich Mund und Hände ab, «tatsächlich ein Genuss, ja, ein königlicher, wenn ich so sagen darf.» Er rutschte auf die vordere Kante der Bank und stellte beide Füße fest auf den Küchenboden. «Wie ich schon sagte, es haben sich einige Fragen ergeben, nun, man könnte sagen: Unklarheiten. Ich möchte Euch in Eurer Trauer so wenig als möglich belästigen, Meisterin, so wenig als möglich. Leider bedarf es, nun, einer genaueren Untersuchung. So wie sich die Causa entwickelt hat …»
«Der Fall?», knurrte Elwa am unteren Ende des Tisches, «was heißt hier Fall? Unser Meister war unser Meister, und dazu der Ehemann von unserer Meisterin. Der war kein Fall.»
Wagner überlegte kurz, ob er diese knurrige Alte hinausschicken und vorgeben sollte, er wolle Madam alleine sprechen, Madam und die Jungfer. Aber Madam Hofmann kam ihm zuvor, was ihm wiederum gelegen kam, denn er wollte die ganze Familie zusammen
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