Die Nacht des schwarzen Zaubers
Sekundenschnelle über jene Höhlen hinweg, die das Meer im Laufe von Jahrtausenden geschaffen hatte.
9
In dieser Nacht schliefen Alex Baumann und Titus Hansen im halbfertigen Haus. Am frühen Morgen sollte mit dem Eindecken des Daches begonnen werden. Die Bretter, die Rollen mit geteerter Pappe und die Blöcke mit Bitumen lagen schon bereit.
»Ein Luxusdach«, meinte Dr. Rank. »Spitzenklasse, wie alles, was Sie hier bieten, Alex. Sie haben Häuptling Balolonga mit Ihrem Charme gewonnen, und nun läßt er seine Leute schuften, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan haben. Sie haben der schönen Sathra den Kopf verdreht, ob Sie's wollten oder nicht. Sie haben sogar Tomamai, den großen Schweiger, dazu gebracht, mit Volker auf Fischfang zu gehen; in den letzten sechs Wochen sind vier Frachtschiffe hier vorbeigekommen und haben Waren für Sie abgeladen, was seit Menschengedenken auf Aimée nicht passiert ist – vier Schiffe in sechs Wochen, das ist ja geradezu Welthandelsverkehr. Und nun bekommen Sie das einzige massive Dach auf Aimée, das so herrlich nach Teer stinkt. Ich rieche das gern, verrückt, was? Als kleiner Junge bin ich immer zu den Straßenarbeitern gelaufen und habe mich neben die Teerkocher gestellt, die Nase immer dort, wo es gerade am meisten dampfte. Später habe ich als Mediziner gelernt, daß so etwas zu den Krebsnoxen gehört! Aber habe ich Lungenkrebs? Keine Spur. Ich habe sämtliche Krankheiten in mir totgesoffen. Man sollte mir für diese Allgemein-Therapie den Nobelpreis verleihen.«
Plötzlich betrachtete er den Neubau sehr nachdenklich. Es schien, als wäre er nicht so ganz zufrieden. »Sagen Sie mal, Sie wollten doch raus aus dem Zivilisationsdreck, nicht wahr? Ein Paradies suchen, glücklich sein, leben ohne Parteien und Steuern, ohne neidische Nachbarn und intrigierende Konkurrenten, ohne lügende Zeitungen, ohne Verpflichtungen, höflich zu sein, wo man den lieben Partner in die Fresse schlagen möchte – kurzum, ein Leben ohne Umweltverpestung, Düsenlärm und Autoabgasen – ein …«
»Was soll das, Vince?« sagte Baumann ungehalten. »Warum zählen Sie das alles auf? Was hat das mit dem neuen Haus zu tun?«
»Viel! Es ist ein Musterbeispiel dafür, daß keiner, auch Sie nicht, aus seiner Haut herauskann! Was bauen Sie da? Einen Bungalow nach europäischen Normen! Wenn's fertig ist, kommt eine Funkstation hinzu, damit Sie nicht von der Welt abgeschlossen sind. Dann folgt ein großes Stromaggregat …«
»Das kommt tatsächlich, und bereits in zehn Tagen«, sagte Hansen, der hinter den beiden stand und den Bauplan studierte.
»Dann natürlich Tiefkühlschrank, Waschmaschine, Spülmaschine, Elektrogrill. Warum sind Sie eigentlich von Essen weg, Alex?«
»Soll ich in einer Höhle leben wie Sie, Vince?«
»Es geht weiter!« Dr. Rank hob die Hände und zählte es an den Fingern ab. »Es kommt also ein Motorboot, und um die Insel besser kennenzulernen, schafft man einen Jeep an. Das spricht sich rum in Mahé: Hört, hört, dort drüben auf Aimée wird urbanisiert – so nennt man das wohl, was? Und schon rauschen die Immobilienhändler heran, und das letzte Paradies liegt in der Scheiße!« Dr. Rank nickte und steckte die Hände in die Taschen seiner ausgefransten Hose. »Das alles sehe ich an diesem Haus, Alex. Man kann's nicht ändern, der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.«
»Wir wollen hier leben, Vince«, sagte Baumann ernst. »Für immer! Auch wenn …« Er schwieg und biß sich auf die Unterlippe.
Rank nickte. »Ihr Junge wird hier begraben werden«, sagte er trocken. »Aber nicht mit sechzehn, sondern als alter Mann! Was Tomamai aus ihm gemacht hat, ist ein Wunder!«
»Das sagen Sie als Mediziner?« Hansen faltete den Hausplan zusammen. »Wenn man Leukämie mit Fischfang heilen könnte …«
»Und mit der nach Pisse schmeckenden Medizin von Tomamai – das ist es!« Dr. Rank zeigte auf das Haus mit den Balkengerippen des Daches. »Alex, tun Sie mir den Gefallen, und decken Sie über Ihre Teerpappe Palmstroh und Matten aus Palmblättern. Nicht wegen der Folklore. Meinetwegen! Sie tun mir einen Gefallen. Geteerte Dächer sind meine Jugend, und da fange ich einfach an zu heulen …«
Er wandte sich schroff ab und watschelte davon. Dieser Charlie! Er sah von hinten wirklich aus wie ein ergrauter Chaplin.
»Er hat ein gutes Herz«, sagte Hansen leise.
»Und außerdem hat er auch recht.« Baumann betrachtete sein halbfertiges Haus plötzlich mit anderen Augen. »Es
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