Die Nacht des Zorns - Roman
mir.«
»Wie, Sie kennen nicht mal ihren Namen? Die
Mesnie Hellequin
?«, flüsterte sie.
»Nein, tut mir leid«, wiederholte Adamsberg und ging mit ihr zu seinem Büro zurück. »Veyrenc, das Verwegene Heer, kennen Sie die Truppe?«, fragte er, während er seine Schlüssel und sein Mobiltelefon einsteckte.
»Wütende«, korrigierte die Frau.
»Ja. Die Tochter von Madame Vendermot hat den Verschollenen mit ihm gesehen.«
»Und noch ein paar andere«, beharrte die Frau. »Jean Glayeux und Michel Mortembot. Aber den Vierten hat meine Tochter nicht erkannt.«
Ein Ausdruck heftiger Überraschung glitt über Veyrencs Gesicht, dann lächelte er leicht, die Oberlippe lüpfend. Wie ein Mensch, dem man ein ganz unerwartetes Geschenk macht.
»Ihre Tochter hat das Heer tatsächlich gesehen?«, fragte er.
»Ja, sicher.«
»Und wo?«
»Da, wo es bei uns vorüberzieht. Auf dem Weg von Bonneval, im Wald von Alance. Da ist es immer durchgeritten.«
»Wohnt sie dort gegenüber?«
»Nein, wir wohnen mehr als drei Kilometer weiter weg.«
»Ist sie hingegangen, um es zu sehen?«
»Nein, das schon gar nicht. Lina ist ein sehr vernünftiges Mädchen, sehr besonnen. Sie war eben da, Punkt.«
»In der Nacht?«
»Sie kommt immer nachts da durch.«
Adamsberg zog die kleine Frau mit sich aus dem Büro und bat sie, am folgenden Tag wiederzukommen oder ihn demnächst noch einmal anzurufen, wenn alles in ihrem Kopf ein wenig klarer wäre. Veyrenc, auf einem Stift herumkauend, hielt ihn diskret zurück.
»Jean-Baptiste«, fragte er, »hast du wirklich nie davon gehört? Von dem Wütenden Heer?«
Adamsberg schüttelte den Kopf, wobei er sich mit den Fingern rasch die Haare kämmte.
»Dann frag mal Danglard«, insistierte Veyrenc. »Das wird ihn sehr interessieren.«
»Warum?«
»Weil es, soviel ich weiß, die Ankündigung einer Erschütterung ist. Einer verdammt heftigen Erschütterung vielleicht.«
Wieder lächelte Veyrenc kaum merklich, und als hätte das plötzliche Auftauchen dieses Wütenden Heeres ihn auf einmal überzeugt, unterschrieb er.
4
Als Adamsberg nach Hause kam, viel später als gedacht – der Großonkel war eine harte Nuss gewesen –, stand sein Nachbar, der alte Spanier Lucio, in der Abendwärme und pisste geräuschvoll an den Baum im kleinen Garten.
»Hallo,
hombre «
, sagte der Alte, ohne sich zu unterbrechen. »Einer von deinen Lieutenants wartet auf dich. Eine ziemlich stämmige, gute Frau, hoch und breit wie ein Turm. Dein Junge hat ihr aufgemacht.«
»Das ist keine stämmige, gute Frau, Lucio, das ist eine Göttin, eine vielseitige Göttin.«
»Ah, die ist das?«, sagte Lucio und zog seine Hose zurecht. »Von der du die ganze Zeit sprichst?«
»Ja, die Göttin. Also kann sie auch nicht wie alle Welt aussehen. Weißt
du,
was das ist? Das Verwegene Heer? Hast du diesen Begriff schon mal gehört?«
»Nein,
hombre.
«
Lieutenant Retancourt und Adamsbergs Sohn Zerk – er hieß in Wirklichkeit Armel, aber der Kommissar hatte sich in den nur sieben Wochen, seitdem er ihn kannte, noch nicht daran gewöhnt – standen beide in der Küche, mit Zigarette im Mundwinkel, über einen mit Watte ausgelegten Korb gebeugt. Sie wandten nicht den Kopf, als Adamsberg eintrat.
»Hast du’s nun kapiert oder nicht?«, sagte Retancourt barsch zu dem jungen Mann. »Du befeuchtest kleine Stückchen Zwieback, nicht groß, und führst sie ihr ganz behutsam in den Schnabel ein. Danach ein paar Tropfen Wassermit der Pipette, nicht zu viel am Anfang. Dann einen Tropfen aus diesem Fläschchen. Das ist ein Stärkungsmittel.«
»Sie lebt noch?«, erkundigte sich Adamsberg, er fühlte sich seltsam fremd in seiner eigenen Küche, wie sie da von der großen Frau und diesem unbekannten Sohn von achtundzwanzig Jahren eingenommen war.
Retancourt richtete sich auf und legte ihre Hände flach auf die Hüften.
»Es ist nicht sicher, ob sie die Nacht übersteht. Fazit, ich habe über eine Stunde gebraucht, die Schnur von ihren Beinen zu lösen, sie hatte sie sich bis zum Knochen eingeschnitten, sie muss tagelang daran herumgezerrt haben. Aber er ist nicht gebrochen. Es ist alles desinfiziert, der Verband muss jeden Morgen gewechselt werden. Der Mull ist da drin«, sagte sie und schlug auf eine kleine Schachtel auf dem Tisch. »Sie hat ein Flohmittel bekommen, das müsste ihr auch von daher Erleichterung verschaffen.«
»Danke, Retancourt. Hat der von der Spurensicherung die Schnur mitgenommen?«
»Hat er. Was nicht ganz
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