Die Nacht des Zorns - Roman
weggefahren und durch irgendetwas daran gehindert worden, zurückzukehren. Die Gendarmen sagen, sie haben ihn auch in keinem Krankenhaus gefunden.«
»Als sie sich das Haus angesehen haben, lag der Inhalt der Gefriertruhen über den ganzen Raum verstreut.«
»Ja.«
»Wozu hat er dieses ganze Fleisch? Hält er Hunde?«
»Er ist Jäger, also packt er sein Wildbret in Gefrierschränke. Er tötet viele Tiere, und er gibt nichts ab.«
Die Frau erschauerte ein wenig.
»Brigadier Blériot – der, der ist sehr nett zu mir, nicht wie der Capitaine Émeri – hat mir die Szene beschrieben. Es war grauenvoll, hat er gesagt. Auf dem Boden lag die eine Hälfte einer Bache, aber mit dem ganzen Kopf, mehrere Keulen von Hirschkühen, Häsinnen, Frischlinge, Rebhühner. Das alles einfach so hingeschmissen, Kommissar. Als die Gendarmen reinkamen, faulte das schon seit Tagen. Bei dieser Hitze ist das kreuzgefährlich, all diese Fäulnis.«
Angst vor Bücherwänden und Angst vor Mikroben. Adamsberg warf einen Blick auf die beiden großen Geweihstangen, die, von Staub bedeckt, noch immer auf dem Fußboden seines Büros lagen. Das fürstliche Geschenk just eines Normannen.
»Häsinnen, Hirschkühe? Ist ein guter Beobachter, Ihr Brigadier. Jagt er auch?«
»O nein. Wir sagen zwangsläufig ›Hirschkuh‹ oder ›Häsin‹, weil wir ja wissen, wie er ist, Herbier. Er ist ein widerlicher Jäger, ein Verbrecher. Er tötet nur Weibchen und Jungtiere, und ganze Würfe. Er schießt sogar auf trächtige Weibchen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Alle Welt weiß das. Einmal ist Herbier verurteilt worden, weil er eine Bache mit ihren Kleinen im Gefolge getötet hatte. Auch Rehkitze. Was für ein Jammer. Aber da er das in der Nacht macht, kriegt Émeri ihn nie zu fassen. Fest steht jedenfalls, dass seit langem kein Jäger mehr mit ihm auf die Jagd gehen will. Selbst die Schlächter unter ihnen, die auf alles schießen, was sich bewegt, wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aus der Jagdliga Ordebequer Flur ist er ausgeschlossen worden.«
»Demnach hat er Dutzende Feinde, Madame Vendermot.«
»Also, es ist eher so, dass niemand mit ihm verkehrt.«
»Meinen Sie, dass Jäger ihn umbringen würden? Ist es das? Oder auch Gegner der Jagd?«
»O nein, Kommissar. Den hat was ganz anderes ergriffen.«
Nachdem sie einen Augenblick lang recht mitteilsam gewesen war, zögerte die Frau von neuem. Sie hatte immer noch Angst, aber Bücherwände schienen sie nicht mehr zu beunruhigen. Es war eine hartnäckige, tiefinnerliche Furcht, die Adamsbergs Aufmerksamkeit noch immer beschäftigte, während der Fall Herbier die Reise aus der Normandie nicht erfordert hätte.
»Wenn Sie nichts wissen«, fuhr er in müdem Ton fort, »oder wenn es Ihnen untersagt ist, zu reden, kann ich Ihnen nicht helfen.«
Commandant Danglard war im Türrahmen aufgetaucht und machte ihm Zeichen höchster Dringlichkeit. Es gab Nachricht von dem achtjährigen Mädchen, das in den Wald von Versailles geflohen war, nachdem es eine Flasche Obstsaft auf dem Kopf seines Großonkels zerschlagen hatte. Der Mann hatte gerade noch das Telefon erreichen können, bevor er ohnmächtig zusammenbrach. Adamsberg gab Danglard wie der Frau zu verstehen, dass er zum Ende käme. Die Sommerferien hatten begonnen, in drei Tagen würde sich die Brigade um ein Drittel ihres Personals verkleinern, die laufenden Akten mussten abgearbeitet werden. Die Frau verstand, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. In Paris nehmen sich die Leute nicht so viel Zeit, das hatte ihr schon der Vikar gesagt, selbst wenn dieser kleine Kommissar freundlich und geduldig mit ihr gewesen war.
»Lina, meine Tochter«, sagte sie darum hastig, »hat ihn gesehen. Herbier. Sie hat ihn zwei Wochen und zwei Tage vor seinem Verschwinden gesehen. Sie hat es ihrer Chefin erzählt, und am Ende hat ganz Ordebec es gewusst.«
Danglard war zu seinen Akten zurückgekehrt, ein Balken des Unmuts furchte seine breite Stirn. Er hatte Veyrenc in Adamsbergs Büro gesehen. Was hatte er da zu suchen? Würde er unterschreiben? Sich weiter verpflichten? HeuteAbend sollte die Entscheidung fallen. Danglard blieb am Kopiergerät stehen und streichelte den dicken Kater, der sich dort fläzte, in seinem Fell ein wenig Trost suchend. Die Gründe seiner Antipathie gegenüber Veyrenc mochte er sich nicht eingestehen. Eine dumpfe und hartnäckige, nahezu weibliche Eifersucht, das zwingende Bedürfnis, ihn von Adamsberg fernzuhalten.
»Wir müssen uns
Weitere Kostenlose Bücher