Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
mit dem Pflanzenheber festklopfe. Ich wische meine Hände im Gras ab, bis sie fast sauber sind. Als Nächstes hole ich die Wasserflasche aus der Tasche und spüle den letzten Dreck ab, putze meine Fingernägel und trockne die Hände mit einem Papiertuch ab. Ich betrachte sie von allen Seiten, und als ich sicher bin, dass sie sauber sind, stehe ich wieder auf.
Ich stopfe das dreckige Tuch in eine Plastiktüte und diese in meine Schultasche. Die Urne halte ich noch in der Hand. Ich verlasse den Friedhof, biege jedoch zum Tennisplatz ab, denn direkt vor dem Zaun steht ein Mülleimer. Ich stopfe die Urne hinein. Sie sackt ab und landet so lautlos auf dem übrigen Abfall, als wäre sie in tiefste Tiefen gesunken, in einen Bereich jenseits des Nichts.
Nachdem der Anwalt mir die Asche überreicht hatte, dachte ich daran, sie in unsere große Mülltonne zu kippen. Aber ich finde es besser, wenn Fiona und ihre Eltern gemeinsam in der Finsternis verrotten.
Auf dem Rückweg zur Kirche sehe ich, wie Amy ihren Schal besorgt um ihre Hände wickelt. Sie sagt etwas zu Paul, und er nimmt sie in die Arme und küsst ihr Haar. Dann dreht er sich um und erblickt mich. Er macht Amy auf mich aufmerksam. Sie rennt fast auf mich zu. Paul schlendert grinsend hinterher.
Ich bleibe lächelnd stehen und schaue zu, wie sie auf mich zukommen. Amy verlangsamt ihre Schritte. Sie strahlt vor Erleichterung und Liebe.
Sie nehmen mich in die Mitte und legen mir jeweils einen Arm um die Schultern. Dann gehen wir zum Auto.
»Kommt Miss Winters heute Abend vorbei?«, frage ich, während der Kies unter unseren Schuhen knirscht.
»Aber natürlich«, sagt Amy zärtlich und senkt den Blick auf mich. »Sie ist sehr stolz auf dich, weil du das Grab besucht hast. Wir sind alle stolz auf dich.«
Ich habe natürlich dafür gesorgt, dass Amy und Paul sie einladen. Und ich habe auch dafür gesorgt, dass sie immer wieder betont haben, wie wichtig dies für mich sei – wie unglaublich wichtig es für mich ist, an diesem Abend alle Menschen um mich zu haben, die wissen, was es heißt, dass ich Fionas Grab besucht habe …
Sie wird zwar ahnen, dass ich sie in Wahrheit wegen Onkel Ben eingeladen habe, aber ich glaube, dass sie nicht zuletzt deshalb kommt, weil sie tatsächlich stolz auf meinen Friedhofsbesuch ist. So hat sie einen prima Vorwand für ihre Zusage, denn ich weiß, dass sie Onkel Ben gern wiedersehen möchte. Und bei einem Abendessen mit der Familie wäre sie weder meine Lehrerin noch meine heimliche Therapeutin, sondern eine Freundin. Ein Mensch, der allmählich in unser aller Leben eintritt. Mir ist natürlich klar, dass sie vor allem wegen mir kommt, aber ich bin überzeugt, dass sich das bald ändern wird. Soll sie so oft behaupten, wie sie will, dass es »unethisch ist, eine romantische Beziehung anzuknüpfen« (das sind ihre Worte), aber sie war die ganze Zeit eindeutig und ganz bewusst nicht meine Therapeutin – das war der springende Punkt dabei. Und man kann nun einmal nicht auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen.
Außerdem wäre es nicht weiter schlimm, wenn sich meine Lehrerin mit meinem Onkel treffen würde. Lehrern ist es schließlich auch nicht untersagt, sich privat mit den Eltern ihrer Schüler zu treffen. Sie wird sich zwar noch eine ganze Weile zieren und sträuben, aber ich werde sie einfach daran erinnern, dass es meine Idee war, dass sie mich dadurch also gar nicht im Stich lassen würde. Vielleicht gehe ich auch freiwillig zu einem richtigen Therapeuten, um sie und Onkel Ben glücklich zu machen. Vielleicht kann ich den Therapeuten sogar dazu bringen, Amy zu berichten (die es dann Miss Winters und Onkel Ben erzählen könnte), dass mich die Verbindung der beiden aufrichtig freut und beglückt. Ich habe nie begriffen, warum Miss Winters sich so anstellt oder glaubt, »ethische und moralische Grenzen zu überschreiten«, wenn sie mal mit Onkel Ben essen geht, aber ich nehme an, dass sie diesen Blödsinn vergisst, sobald sie glücklich ist – dann wird sich alles in Wohlgefallen auflösen.
An diesem Abend lachen die beiden, als sie in den Flur kommen, denn sie sind sich schon draußen vor der Pforte begegnet. Sie legen lachend Mütze und Handschuhe, Schal und Mantel ab und auch ihre Hemmungen. Und dann lachen wir alle, weil wir uns in der Küche drängeln, wir lachen, während wir den Tisch decken und letzte Hand an das Essen legen. Und beim Essen wird weitergelacht.
Ich warte, bis Amy, Paul und Onkel Ben aufstehen, um in
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