Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
auf einen Ort beschränkt. Darum bekommt er auch kein Grab. Das hätte er gehasst. In einer Kiste eingesperrt zu sein – in einer Kiste in die Erde gesenkt zu werden. In der Finsternis gefangen zu sein.«
Ihr Gesicht wirkte im Sonnenschein blass und gehetzt. Ich legte den Kopf zurück, schaute zu ihr auf. Die Sonne brannte an einem weißen Himmel, und im grellen Schein sahen ihre Augen aus, als wären sie aus Glas. Ich folgte ihrem Blick, weil ich wissen wollte, welcher Anblick sie so traurig und verzweifelt wirken ließ. Sie schien sich zu fürchten. Ich packte ihre Hand fester, fragte mich, ob sie Gespenster sah: andere Menschen, deren Asche hier verstreut wurde, die gemeinsam mit uns durch das Marschland wanderten. Aber da war nichts. Nur das goldgelbe Gras des Spätsommers und das blendend glitzernde Wasser im Schilf.
»Sie hat kein Testament gemacht«, sage ich zum Anwalt. »Hundertprozentig.«
Der Anwalt schaut mich an. »Du hast sicher Recht, aber wir müssen trotzdem feststellen, ob dem so ist. Wir müssen es nachweisen«, erklärt er, als wäre ich erst fünf und obendrein dumm.
» Könnten Sie das feststellen?«, frage ich und hole zischend Luft. »Ich will , dass Sie das feststellen«, setze ich hinzu. »Und danach – sobald die Tatsache feststeht, dass sie kein Testament oder etwas Ähnliches hinterlassen hat – möchte ich … ich will, dass nur Name, Geburts- und Todesdatum auf dem Grabstein stehen. Sonst nichts. Nicht einmal ›Ruhe in Frieden‹. Nur ihr Name und die Daten. Falls irgendetwas anderes darauf zu lesen ist, will ich, dass es entfernt wird, dass der Stein ausgetauscht wird oder was auch immer erforderlich ist – ich will nur den Namen und die Daten.«
»Mein Liebes …«, sagt Amy und legt mir eine Hand auf das Knie.
»Das ist mein Wunsch.«
Amy schaut tief besorgt zu Paul, aber dieser sieht mir fest in die Augen. Er nickt. »Wenn niemand festgelegt hat, was auf dem Grabstein stehen soll, ist es deine Entscheidung, Evie.«
Der Anwalt strahlt tiefstes Unbehagen aus. »Das ist ein sehr … unüblicher … Wunsch …«
»Meine Tochter erbt genug Geld, um für die Arbeiten und alle von ihr gewünschten Änderungen aufkommen zu können«, sagt Paul entschieden.
»Ich will es aber nicht wissen«, schiebe ich hastig ein. »Ich will gar nicht wissen, was jetzt auf dem Grabstein steht und ob er geändert werden muss … Ich will es nicht wissen.«
Paul drückt meine Schulter. »Ich kümmere mich darum, Evie.«
Und das tut er. Eines Tages ist Paul schon von der Arbeit zurück, als ich aus der Schule komme.
»Das Grab entspricht jetzt deinen Wünschen, Evie«, sagt er nur.
Und ich sage: »Können wir hinfahren?«
Also stehen wir jetzt vor der Friedhofspforte.
»Würdet ihr hier bitte auf mich warten?«, frage ich.
Amy will etwas einwenden, aber Paul legt einen Arm um ihre Schultern. »Ruf uns, wenn du willst, dass wir kommen«, sagt er und führt Amy davon.
Ich lächele ihr zu, als sie den Kopf weit über die Schulter dreht, um mir einen Blick zuzuwerfen. Sie zaudert zuerst, aber dann erwidert sie mein Lächeln und dreht sich um.
Und ich betrete den Friedhof.
Ich bin allein in diesem Abschnitt. Die eine Seite grenzt an einen verwaisten Tennisplatz. Ich weiß, dass sich das Grab ganz hinten befindet, in der dritten Reihe. Ich habe keine Mühe, es zu finden. Als ich es erreiche, sinke ich auf die Knie und betrachte den Stein. Nur ihr Name und die Daten. Falls irgendetwas entfernt wurde, ist das nicht zu erkennen. Ich ziehe den Riemen der Tasche von meiner Schulter, hole den Pflanzenheber heraus und beginne zu graben. Ich grabe tiefer als erforderlich, aber niemand stört mich.
Amy bot natürlich an, Blumen zu besorgen: »Nur wenn du willst, mein Liebes. Du sagst mir Bescheid, wenn du einen Wunsch hast, nicht wahr?«
Aber ich wollte nur meine Schultasche. Amy war ziemlich verdutzt, als ich sie mit ins Auto nahm, aber Paul drückte mich nur kurz und ermahnte mich, das Anschnallen nicht zu vergessen.
Ich sage nichts. Ich habe erwogen, etwas zu sagen, aber es kommt mir falsch vor, mit Fiona zu sprechen, wie Amy mit Adam spricht, obwohl ich etwas ganz anderes zu erzählen hätte. Aber jetzt, an ihrem Grab, habe ich nicht das Gefühl, ihr auch nur ein einziges Wort sagen zu müssen.
Stattdessen hole ich die Holzurne aus der Tasche, löse die Klemmen des Deckels und kippe die Asche in das von mir gegrabene Loch. Danach fülle ich es mit Erde auf, die ich wieder und wieder
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