Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Zeichnung neben der letzten von Adam. Ich lege manchmal eine Hand darauf, aber nur auf eine Ecke, um sie nicht zu beschädigen, ich möchte sie bloß berühren … Ich weiß nicht genau, warum, aber es gibt mir ein gutes Gefühl, das ganz frei von Eifersucht ist. Und darum bin ich stolz auf mich. Ich bin stolz, und ich bin glücklich. Diese Zeichnung gibt mir das Gefühl, dass unsere Familie vollständig ist.
Paul lässt sich auf das Sofa fallen, verschränkt die zwischen die Knie gelegten Hände so fest, dass die Knöchel erbleichen. »Ich habe nur so eine Ahnung, dass wir einen Preis dafür zahlen müssen.«
»Herrgott noch mal!«, sagt Onkel Ben ungeduldig. »Hör auf mit diesem Karma-Quatsch. Wenn überhaupt, dann hat sich ihr Schicksal erfüllt. Evie hat schon einen viel zu hohen Preis dafür bezahlt, meinst du nicht auch? Was passiert ist, könnte man ausgleichende Gerechtigkeit nennen. Und du machst dir Sorgen über das Beste, was passieren konnte, seit es Evie nach ihrer Operation so gut geht?«
Paul lässt den Kopf hängen, reibt seine Schläfen. Kurz darauf lässt er sich nach hinten sacken, legt den Kopf auf die Sofalehne und starrt die Decke an.
»Vielleicht ist manches zu schön, um wahr zu sein.« Er seufzt und rollt den Kopf zu Amy herum. »Wenn du morgen Mousse au Chocolat machst, könnte ich fast glauben, dass das auch für dich gilt.«
Ich gehe lächelnd wieder zu Bett.
Fionas Eltern haben kein Testament hinterlassen. Und einen bestimmten Anwalt scheinen sie auch nicht gehabt zu haben. Da ich ihre einzige Angehörige bin, stellt sich rasch heraus – offenbar hatte der Anwalt von Amy und Paul dabei seine Hand im Spiel –, dass ich die Erbin bin. Die beiden hatten etwas Geld auf der Bank, dazu kommt die Summe, mit der das Haus versichert war. All das ist mir egal. Wichtig war nur die Frage des Anwalts nach meinen Wünschen bezüglich der Bestattungsmodalitäten. Ich ließ die beiden einäschern und die Asche in eine schlichte Holzurne füllen. Amy bot an, etwas Hübscheres zu besorgen, aber ich bestand auf Holz, weil die Asche so nicht lange in der Urne bleibt.
Nun sitzen wir im Büro des Anwalts, und alle betrachten mich eindringlich: Amy besorgt, Paul voller Stolz und der Anwalt mit reichlich übertriebener Sympathie.
»Tja … Nun, ich nehme an, all das war ein wenig zu viel für die junge Dame«, sagt der Anwalt und verzieht sein großes, fettes Gesicht zu einem verschmitzten Grinsen. »Vielleicht sollten wir …«
»Da es kein Testament gibt und somit alles in meiner Entscheidung liegt, kann ich auch etwas ändern, oder?«, unterbreche ich ihn.
»Und an welche Änderungen denkst du?«, fragt der Anwalt verwirrt.
»Fi … das Grab meiner … meiner Mutter«, sage ich und spreche rasch weiter, um nicht über die Worte nachdenken zu müssen. »Wenn … wenn meine … Großeltern«, quetsche ich hervor, »eine Grabinschrift ausgesucht haben, die mir nicht gefällt – kann ich die ändern lassen?«
Der Anwalt macht riesengroße Augen und blinzelt. »Tja … Hm … Ich denke, das wäre zulässig. Vorausgesetzt, deine Mutter hatte das, was du … äh … ändern lassen möchtest, nicht schriftlich so bestimmt.«
Ich lächele. Fiona hatte ganz sicher kein Testament gemacht – jedenfalls keines, das berücksichtigt worden wäre. Ihr Grab ist von ihren Eltern angelegt worden, ob sie das nun so wollte oder nicht. Ich sollte die Sache vielleicht mit Miss Winters besprechen. Wäre interessant zu erfahren, ob sie glaubt, dass das Grab in seiner jetzigen Gestalt Fionas letztem Wunsch entspricht.
Am Tag bevor wir zu ihren Eltern zogen, fuhr Fiona mit mir ins Marschland, um die Asche meines Vaters zu verstreuen. Wir wanderten stundenlang umher, streuten ein bisschen Asche hierhin, ein bisschen dorthin. Ich war anfangs den Tränen nahe, weil ich die schreckliche Vorstellung hatte, dass die Asche bei dem Versuch, sich wieder zu meinem Vater zusammenzusetzen, über das Marschland wirbeln würde. Ich weiß noch, dass ich Fiona fragte, ob es ihm nicht wehtun würde, so verstreut zu werden, aber sie ergriff nur lächelnd meine Hand und steckte sie in die kleine Holzurne.
»Das tut ihm nicht weh«, sagte sie. »Er hat das Gefühl der Freiheit geliebt. Er hätte es gemocht, so verstreut zu werden, dass er an mehreren Orten zugleich ist. Und wenn sein Geist beschließt zurückzukehren, kann er kreuz und quer über das Marschland wandern. Dann sitzt er nicht in der Falle. Dann ist er nicht
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