Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexia Casale
Vom Netzwerk:
Was bezweckt Hamlet mit dieser berühmten Frage?« Niemand reagiert. Ich seufze, melde mich aber auch nicht. Nicht, nachdem ich gerade laut vorgelesen habe. Einige in der Klasse wundern sich darüber, dass ich Englisch so mag. Nicht nur Fred James und Sonny Rawlins – wenn es nur die beiden wären, wäre es mir egal. Aber ich will mich nicht schon wieder in den Vordergrund drängen, denn wegen der Operation bekomme ich schon mehr als genug Aufmerksamkeit. Obwohl es diesmal eine gute Aufmerksamkeit wäre, denn ich weiß, was Shakespeare meint.
    »Was meinst du, Jenny?«
    Jenny starrt Miss Winters ausdruckslos an. »Vielleicht weiß er nicht, ob er Krieg so toll finden soll.«
    Miss Winters lächelt. »Nicht schlecht formuliert. Aber etwas zu metaphorisch … Welche Art von Krieg ist gemeint? Lynne – was denkst du?«
    Lynne stößt mich mit dem Ellbogen an, als könnte ich ihr die Antwort zuflüstern, ohne dass Miss Winters dies hört. »Äh …«, sagt sie ausweichend. »Na ja … ich nehme an …« Sie schiebt ihren Block zu mir hin.
    Rache für Papi , kritzele ich, und damit mein Stift verdeckt ist, tue ich so, als würde ich den anderen Arm ausstrecken.
    »Er …« Lynnes Blick zuckt auf das Blatt. »Es geht um Rache für seinen Vater. Denn sein Onkel hat seinen Vater ermordet, und der war wiederum der Geist.«
    »Ja, einerseits«, sagt Miss Winters und wirft mir einen Blick zu, als wollte sie sagen: »Sehr geschickt, Evie«, bevor sie sich wieder der Tafel zuwendet. »Das ist ein Aspekt. Aber worin besteht der Sinn dieses Monologs? Na?«
    Ich melde mich und spreche schon, da hat Miss Winters mir noch gar nicht zugenickt. »Aber hier kann es nur um Rache gehen«, wende ich ein und bin sowohl verwirrt als auch verärgert, weil ich Lynne die falsche Antwort zugeschoben habe. »Er schreckt jedoch vor den Folgen zurück – fürchtet sich davor, noch mehr zu verlieren. Das bringt er hier zum Ausdruck, richtig? Er plagt sich mit der Frage, ob er sich mit dem begnügen soll, was er hat – Ophelia, seine Freunde, seine Stellung im Königreich –, oder ob er den Forderungen des Geistes Genüge tun soll. Er fragt sich, ob es sinnvoll ist, für die Gerechtigkeit so viel aufs Spiel zu setzen.«
    Miss Winters lächelt. »Ja, richtig: Hamlet wird während des ganzen Stückes von der Frage gequält, was er tun soll … In diesem Monolog geht es allerdings um etwas anderes. Lest ihn noch einmal.«
    Ich sinke mit einem frustrierten Seufzer auf meinen Stuhl zurück. Lynne stupst meinen Fuß an.
    »Tut mir leid«, flüstere ich.
    Sie zuckt mit den Schultern, gibt mir durch ein Grinsen zu verstehen, dass sie es mir nicht krummnimmt.
    »Warum: ›Sein oder nicht sein‹?«, fragt Miss Winters. »Wenn er an Rache denken würde, müsste es doch wohl eher heißen: ›Handeln oder nicht handeln‹, nicht wahr?«    
    »Weil es besser klingt?«, schlägt Jenny vor. Sie drückt ihr Kinn auf die Brust und schaut ihr Buch so misstrauisch an, als dürfte man es nicht aus den Augen lassen.
    Mehrere Schüler lachen, und Miss Winters lacht auch. »Das mag eine Rolle gespielt haben … Im Allgemeinen geht man aber davon aus, dass Hamlet über Selbstmord nachdenkt.«
    Ich senke den Blick stirnrunzelnd auf mein Buch, höre nicht, was sie als Nächstes sagt. Ich finde nach wie vor, dass meine Deutung auch zutreffen könnte.
    »Wer kann mir eine andere Zeile aus dem Monolog nennen, in der es auch darum geht, vor den Sorgen in den Tod zu fliehen?«
    »›Des Mächt’gen Druck‹?«, flüstert Phee mir zu. Ich nicke, aber bevor Phee sich melden kann, ruft Sonny Rawlins bereits die Worte.
    Wir drehen uns alle drei zu ihm um. Er grinst uns an und zeigt uns unter seinem Tisch den Stinkefinger.
    »Ja«, sagt Miss Winters, aber sie klingt nicht so aufmunternd wie sonst – ich weiß nur zu gut, dass Miss Winters fast nichts entgeht. »Kannst du die Zeile, die du für bedeutsam hältst, in voller Länge zitieren?«
    Sonny lässt einen Blick zu mir herüberzucken, als wäre ich schuld daran. »›Des Stolzen … Miss … handlungen‹?«
    Er verhaspelt sich und ich muss grinsen.
    » Miss handlungen«, wiederholt Miss Winter. »Ja, das ist ein Teil des Gesamtbildes, aber ich dachte nicht so sehr an das, was folgt, sondern an das, was der Zeile vorangeht: ›Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel‹. Gleich darauf heißt es: ›Des Mächt’gen Druck‹. Und damit meint er: › Oder des Mächt’gen Druck‹, denn es ist Teil

Weitere Kostenlose Bücher