Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Sache so vertraut vorkommt.
Auf der nächsten Seite stoße ich auf die Antwort, in einem Dialog zwischen Hamlet und Ophelia. Ich kann mich daran erinnern, diese Passage gelesen und Amy gefragt zu haben, warum Hamlet Ophelia in ein Kloster schicken will. Aber nicht das Kloster ist der Stolperstein. Ich habe diese Zeile bei der ersten Lektüre bestimmt falsch verstanden. Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, als ich die Worte hauche: »Mir stehn mehr Vergehungen zu Dienst, als ich Gedanken habe sie zu hegen, Einbildungskraft ihnen Gestalt zu geben, oder Zeit sie auszuführen.« Trotzdem erkenne ich diese Worte wieder – obwohl mir die Sache mit der »Zeit« nicht einleuchten will.
Ich blättere zu der Seite um, mit der sich die Klasse gerade beschäftigt, kann mich aber nicht konzentrieren.
Nach der Stunde, ich packe gerade meine Bücher ein, kommt Miss Winters zu mir. »Geht es dir gut, Evie?«, fragt sie. »Hast du Schmerzen?«
Ich blinzele sie an. »Nein, ich glaube nicht …« Ich horche kurz in mich hinein, spüre ein dumpfes Pochen auf der Seite, aber es ist nicht schlimmer als üblich. »Alles gut.«
»Du wirkst etwas zerstreut.« Sie sagt dies lächelnd, um mir zu verstehen zu geben, dass es nicht als Rüge gemeint ist.
»Ich habe über das Stück nachgedacht«, sage ich.
Miss Winters lächelt noch breiter, und ich merke, dass sie sowohl erleichtert als auch erfreut ist. »In diesem Fall lasse ich dich zur nächsten Stunde gehen. Aber denk bitte daran, den Lehrern Bescheid zu sagen, wenn du dich unwohl fühlst, Evie. Du darfst dich im Krankenzimmer gern ein bisschen hinlegen, wenn du Ruhe brauchst.«
»Alles klar«, sage ich, obwohl ich nicht die Absicht habe, das Angebot anzunehmen.
Ich bin die ganze Zeit zerstreut und gereizt. Die Englischstunde lässt mich nicht los. Irgendetwas nagt an mir, und in unregelmäßigen Abständen kocht Wut in mir hoch.
Ich weiß nicht, warum, aber irgendetwas an diesem Stück gibt mir ein ungutes Gefühl. Als hätte ich einen schrecklichen Fehler begangen oder etwas Furchtbares getan oder versäumt, etwas zu tun, oder … Manchmal fühle ich mich einfach nur elend, dann wieder so, als ob mich Schuld oder sogar Angst plagten. Da ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, nicht greifen kann, scheint es die ganze Zeit unter meiner Haut zu stechen und zu jucken.
Hamlet ist der Schlüssel zu allem. Immer wenn ich den Namen lese oder seinen Klang im Kopf höre, erfüllt mich ein bitterer Hass. Warum kann er keine Entscheidung treffen und sich daran halten? Und warum findet er keine Möglichkeit, für die Sicherheit Ophelias und seiner Freunde zu sorgen, obwohl er doch unablässig und recht geschickt versucht, sein eigenes Stück innerhalb des Stücks aufzuführen? Warum baut er die ganze Zeit Mist und führt alle Beteiligten in die Katastrophe? Und wenn niemand gewinnt, worin besteht der Sinn all dessen?
Wenn ich Ophelia wäre, würde ich ihn für diese Feigheit häuten.
Ich denke während des ganzen Essens über einen anderen Ausgang des Stücks und ein qualvolles Schicksal für Hamlet nach, überhöre Lynne und fauche Phee an, als sie etwas von mir will. Alles vergeblich.
Das ungute, unter der Haut prickelnde Gefühl bleibt, und ich bin schließlich so müde, dass mein Kopf sich wie ausgehöhlt anfühlt und jeder Gedanke ein so großes Durcheinander von Echos durch mein Gehirn hallen lässt, dass ich mich schließlich ganz der Leere der Erschöpfung hingebe.
Schließlich – endlich – ist die Schule zu Ende, und ich folge Phee und Lynne auf dem Kiesweg zum hinteren Tor.
»Komm schon, Evie«, sagt Phee.
Als ich aufschaue, stelle ich fest, dass sie Arm in Arm gehen. Phee zeigt mit dem Ellbogen auf mich, fordert mich auf, mich ihnen anzuschließen. Ich gehe lächelnd los, bleibe dann aber seufzend stehen. »Kann nicht«, sage ich.
Die beiden halten so ruckartig, dass die folgenden, aus der Schule strömenden Schüler fluchen.
Ich schiebe den Riemen meiner Schultasche höher auf die Schulter. »Ich kann das nicht mit links.«
»Dann komm auf meine Seite«, sagt Lynne und verdreht dabei die Augen.
»Ich kann die Tasche links nicht tragen.«
Lynnes Mundwinkel rutschen nach unten, ihre Miene wird starr. Sie fühlt sich immer angegriffen, wenn sie das Gefühl hat, nicht sensibel genug zu sein, was meine Rippen betrifft.
Phee seufzt nur und verdreht auch die Augen. »Gib her«, sagt sie, zieht die Tasche von meiner rechten Schulter und hängt sie über
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