Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Spinnen nicht gemeinsam jagen und also nichts abgeben, jedenfalls nicht freiwillig.
»Und Drachen?«, frage ich.
Drachen sind Beschützer , wird mir erklärt, als hätte ich das auch so wissen müssen.
Ich schaue zu, wie Tau über ein Spinnennetz kullert und auf einen feuchten, gekrümmten Farnwedel tropft. »Sind wir ab jetzt jede Nacht unterwegs?«
Wenn es nicht regnet , antwortet der Drache, als wäre dergleichen sogar in Träumen von Bedeutung.
»Und was haben wir in all den Nächten vor?«, hake ich nach.
Morgen begeben wir uns zum Teich und betrachten die Birken im Mondschein. Die Sterne werden hell sein. Und auch in der folgenden Nacht.
»Noch zehn Tage bis Neumond.«
Bis zum nächsten Dunkelmond , verbessert mich der Drache.
»Dunkelmond«, wiederhole ich und kann die Macht und die Vorahnung spüren, die in diesem Wort liegen.
Die Zeit des Dunkelmonds ist eine der hellwachen Visionen , erzählt der Drache. Visionen, die unsere tiefsten Sehnsüchte zum Vorschein bringen. Außerdem ist es eine Zeit der Veränderungen – der Aufbrüche. Der Dunkelmond zeigt die Geburt des Neumonds an, der sich wie ein Phönix aus der Asche erhebt.
»Gibt es den Phönix tatsächlich?«
Die Frage musst du selbst beantworten , antwortet der Drache knapp. Frag mich ja nicht nach Einhörnern.
»Das habe ich nicht vor«, erwidere ich. »Sie nähern sich nur Menschen mit reinem Herzen. Tugendhaften Menschen.«
Du brauchst kein Einhorn , sagt der Drache mit Nachdruck. Es wäre für dich nicht von Nutzen. Aber dass du dir einen Drachen gewünscht hast, ist gut. Denn mich brauchst du.
Mit diesen Worten erhebt sich der Drache, schlängelt sich kraftvoll und anmutig auf meinem Arm nach unten und lässt sich auf dem Handrücken nieder, den Schwanz um den kleinen Finger gewunden, warm und besitzergreifend.
»Ich friere. Wenn du wirklich so viel nützlicher bist als ein Einhorn, könntest du mir helfen, ein Feuer zu machen.«
Ich helfe , sagt der Drache, wenn meine Hilfe gebraucht wird.
»Und was bringt es, mitten in der Nacht im Marschland herumzulaufen?«, stoße ich hervor, obwohl ich mir vorgenommen hatte, gelassen zu bleiben. »Soll ich hier etwas lernen? Wenn Leute in Büchern Abenteuer mit Fabelwesen erleben, geht es immer darum, dass sie etwas lernen sollen.«
Und das ist das Ende des Abenteuers , sagt der Drache. Du hast einerseits Angst zu versagen und andererseits fürchtest du dich davor, zu bestehen. Aber du kannst lernen, was du willst. Das ist deine eigene Sache. Das ist weder meine Aufgabe noch Teil unseres Vertrages. Ich werde erst verschwinden, wenn du mich dazu aufforderst.
»Aber was soll ich tun?«, frage ich flehentlich.
Der Drache betrachtet mich lange. Du sollst genesen. Die Nacht hält Schönheit und wilde Magie bereit. So viel davon, dass du unbändig froh und stark sein kannst. Das ist keine Lektion. Sondern eine Belohnung, die auf dich wartet, die nichts von dir verlangt, die keinen Lohn will. Schau hin! , befiehlt der Drache. Schau hin und sag mir dann, ob noch mehr nötig ist.
Also richte ich meinen Blick auf die nächtlichen Felder, die Sturmwolken, die im Osten gelb aufglühen.
Schmecke die Sterne und lausche der Dunkelheit , befiehlt der Drache, und danach schweigen wir.
Reicht das nicht? , fragt der Drache.
»›Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage.‹ Wahrscheinlich die berühmteste Zeile aller englischsprachigen Theaterstücke überhaupt«, sagt Miss Winters. »Weg mit dem Comic, Fred. Würdest du bitte die nächsten Zeilen vorlesen, Evie?«, fragt sie und lächelt mich an, als wären wir Verschwörer. Und in gewisser Weise sind wir das auch: Ich weiß inzwischen nicht nur, dass Miss Winters meine Lieblingslehrerin ist, sondern auch, dass ich ihre Lieblingsschülerin bin. Obwohl sie jetzt über Fiona und deren Eltern Bescheid weiß. Ja, ich bilde mir sogar ein, dass sie mich nach unseren Extrastunden noch ein bisschen lieber mag als zuvor, und das macht mich … froh. Was zugleich etwas sonderbar ist. Denn ich hätte nie gedacht, dass jemand, der so viel über mich weiß, mich noch mehr mögen könnte. Ich dachte immer, man würde mich trotzdem mögen. Aber Miss Winters ist da anders. Ganz anders.
»Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder«, lese ich vor,
»Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand zu enden?«
»Das reicht vorerst«, unterbricht Miss Winters. »Wer kann mir sagen, worum es hier geht?
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