Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
ihre eigene.
Lynne lächelt wieder, und dann stürmt sie los und bringt Phee aus dem Gleichgewicht. Sie saust herbei, hakt sich bei mir unter. »Geschafft!«, ruft sie.
Ich lache, doch mein Lachen wird zum Keuchen, als wir alle zur Seite taumeln, ich ramme Lynne, die auf Phee stürzt.
Ich falle auf die Knie und entreiße Lynne, die gegen meine Seite knallt, den Arm.
»Evie! Alles in Ordnung?«, fragt Phee und krabbelt über Lynne, um nach mir zu schauen. »Geht es dir gut?«
»Bestens«, japse ich und presse die linke Hand gegen meine Rippen, spüre das Ziehen der noch nicht ganz verheilten Haut. »Und du? Bist du okay?«
»Was ist überhaupt passiert?«, fragt Lynne, während beide mich von Kopf bis Fuß mustern. »Du hast einen Sprung getan, als hättest du einen Stromschlag bekommen.«
»Ich …«, setze ich an, und als ich begreife, was passiert ist, laufe ich knallrot an. »Ich bin gekniffen worden«, flüstere ich, und ich kann ihren Mienen ansehen, dass sie ahnen, wo ich gekniffen wurde.
Phees rundes Gesicht ist dunkel vor Zorn, als sie auf die Beine kommt und den Staub von ihren Knien klopft. Sie reicht mir eine Hand. »Dieser ätzende Sonny Rawlins«, sagt sie, zieht mich hoch und hilft danach Lynne auf. »Geht es dir auch ganz bestimmt gut?«
Ich nicke und bin froh, sie nicht anschauen zu müssen, als ich mich umdrehe, um Phees zornigem Blick zu folgen.
Da ist er, auf seinem nagelneuen Mountainbike, das aussieht, als hätte es seinen Vater ein kleines Vermögen gekostet. Kunststücke kann man damit nicht machen, dazu ist es das vollkommen falsche Modell – das weiß sogar ich –, aber er versucht es trotzdem. Und er schafft es irgendwie. Fred, der auf seinem alten, zerkratzten Fahrrad sitzt, schaut anerkennend zu und bettelt darum, es auch probieren zu dürfen.
Sonny Rawlins streckt ein Bein vor und bringt sein Rad so abrupt zum Halten, dass eine hüfthohe Kieswelle auf eine Gruppe Siebtklässlerinnen regnet. Sie drängen sich kreischend zusammen und strömen zum Tor. Sonny Rawlins sieht ihnen mit verächtlich verzogener Oberlippe nach, scheint stolz auf sich zu sein. Er spürt offenbar, dass ich ihn beobachte, denn er schaut kurz über die Schulter. Dann verändert sich seine Miene, drückt ein Gefühl oder einen Gedanken aus, den ich nicht deuten kann, der ihm selbst jedoch unangenehm zu sein scheint. Er fährt mit der Zunge über die Unterlippe, dann rast er auf dem Fahrrad davon und scheucht unterwegs ein paar Mädchen mit der Hand aus dem Weg.
Welche Geschichte mag Miss Winters haben? Versteht sie mich so gut, weil sie in ihrem Verein viele Menschen wie mich betreut hat oder weil sie mir irgendwie ähnelt? Oder aus beiden Gründen zugleich? Im Gegensatz zu anderen Lehrern hat sie nie versucht, uns für irgendwelche Katastrophenhilfen zu begeistern, was nur beweist, dass ihre gesamte Leidenschaft dieser einen Wohltätigkeitsorganisation gilt. Ihre Hingabe an diese eine Sache muss einen Grund haben.
Sie wirkt manchmal bedrückt, aber ich weiß nur, dass sie in der Lage ist, tiefe, dumpfe und ständige Schmerzen zu verstehen. An anderen Tagen wirkt sie erschöpft, scheint zu wissen, wie es ist, wenn das Leid kein Ende nimmt, wenn es immer schlimmer wird, zu einer Last wird, die einen fast zu Boden drückt, die einen aber nie ganz in die Knie gehen oder zerbrechen lässt, so dass man ihr entkommen könnte.
»Ich frage mich manchmal, ob ich mir alles nur ausgedacht habe«, sage ich, ohne nachzudenken, zu dem hässlichen, mitten im Zimmer liegenden Teppich. »Ich frage mich manchmal, ob sich all das wirklich zugetragen hat.« An manchen Tagen bin ich fast krank vor Entsetzen und Schuldgefühlen, denke, dass ich mir alles nur einbilde. Obwohl ich weiß, dass es wahr ist. Dann muss ich mir meine Rippen und die anderen Narben in Erinnerung rufen, weil ich sonst nach unten zu Amy rennen und schreien würde, ich sei eine Lügnerin.
Als ich den Kopf hebe, lächelt Miss Winters mich an. Ihr Lächeln ist sanft und gütig. »Das fragt sich jeder, dem es so ergangen ist wie dir, Evie. Und genau darum weiß ich, dass du es dir nicht ausgedacht hast. Nur Lügner hinterfragen sich nie.«
Mein Lächeln kommt ins Schwanken. »Aber warum denke ich dann so etwas?«
Miss Winters’ Lächeln wird noch gütiger. »Weil manche Dinge so furchtbar sind, dass man sie für unwirklich hält. Wenn es einem besser geht, wenn alles in Ordnung ist, hat man das Gefühl, als wäre so viel Glück angesichts all der
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