Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexia Casale
Vom Netzwerk:
einer Aufzählung, zu der auch die Worte ›Des Stolzen Misshandlungen‹ gehören«, fügt sie mit einem Nicken zu Sonny hinzu. Er verzieht das Gesicht, sackt auf dem Stuhl zusammen, schaut zum Fenster. »Anders gesagt: Wie kann ich die Hände in den Schoß legen, wenn mir jemand Unrecht tut oder Böses will? Und dann die nächste Zeile: ›Des Rechtes Aufschub‹. Worauf spielt Hamlet damit an?«
    Etwas Glitschiges streift meine Wange, und ich bekomme nicht mit, was Miss Winters sagt, weil ich mich wütend zu Sonny Rawlins und Fred James umdrehe. Ich kann gerade noch sehen, wie Fred eine Spuckekugel auf Lynne schießt. Sie kreischt auf.
    »Alles in Ordnung, Lynne?«, fragt Miss Winters. Ich sehe, wie ihr Blick zu Sonny Rawlins zuckt. Die Jungs haben ihre »Waffen« weggepackt und versuchen, unschuldig zu lächeln, tun so, als wären sie von der Stunde gebannt. Miss Winters betrachtet sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Vielleicht zieht es ja. Sonny, ich finde, du solltest dich an den freien Tisch am Fenster setzen. Du bist doch groß und stark, da wird es dir sicher nichts ausmachen, die ungesunde Zugluft für die Mädchen abzufangen.«
    Sonny tritt im Vorbeigehen gegen Phees Stuhl.
    »Pass auf, dass du nicht über eine Schultasche stolperst«, mahnt Miss Winters. »Nicht, dass du auf jemanden stürzt. Nun, wie ich gerade sagte, liegt die Antwort in den letzten Zeilen des Monologs. Würdest du sie bitte vorlesen, Phee? Angefangen mit: ›Der angebornen Farbe …‹.«
    »›Der angebornen Farbe der Entschließung
    Wird des Gedankens Blässe … angekrankt‹?«, liest Phee fragend und wirft mir einen Blick zu.
    »Angekränkelt«, flüstere ich.
    »›… des Gedankens Blässe angekränkelt.‹ Was bedeutet ›angekränkelt‹?«, fragt sie Miss Winters.
    Irgendetwas an dieser Zeile macht mich stutzig. Ich lese sie ein zweites und ein drittes Mal und bekomme nicht mit, wie Phee sich bis »Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt« durch den Monolog kämpft.
    »›Verlieren so der Handlung Namen‹«, schließt sie erleichtert.
    Die Worte hallen aus irgendeinem Grund in meinem Kopf nach, lenken mich vom Unterricht ab. Ich lese weiter, weil ich wissen will, warum mir diese Worte so vertraut sind. Ich habe zwar früher mal in diesem Stück geblättert und da und dort ein paar Zeilen gelesen, weiß aber genau, dass ich diese Szene nicht kenne.
    Ich hatte die ganze Zeit gejammert, dass ich Hamlet hassen und es unerträglich finden würde, den von Miss Winters angesetzten Aufsatz darüber schreiben zu müssen, Abschluss hin oder her, und deshalb zeigte Amy mir ein Gemälde, um mich zu ködern: Ophelia in einem prächtigen, silberfarbenen Gewand, die Hände aus dem Wasser eines schmalen, verkrauteten Baches gereckt. Und es klappte, denn ich biss tatsächlich an und quälte mich durch das Stück, weil ich wissen wollte, wie sie in dem Bach geendet war. Trotzdem hatte ich mit Amy noch riesengroßen Zoff wegen des Aufsatzes.
    Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, nicht über Hamlet zu schreiben, sondern mir eine Fragestellung für einen Aufsatz über Der Sturm auszudenken. Amy, so mein Plan, sollte Miss Winters das dann in einem kurzen Brief erklären. Doch Amy lehnte beides kategorisch ab. Zuerst stritten wir uns, weil Amy meinte, es könne nicht sein, dass es mir nur um den Aufsatz gehe, dass da noch etwas anderes in mir gäre, über das wir reden müssten. Als ich sie endlich davon überzeugt hatte, dass es wirklich nur um Hamlet ging, hatten wir beide die Nase so voll, dass wir einander fast anbrüllten – eine Seltenheit. Amy drohte, mein Taschengeld einzubehalten. Dann kam auch noch Paul dazu und gab ihr Rückendeckung …
    Ich schrieb den Aufsatz dann in einem Rutsch und starrte dabei abwechselnd das Buch und den Tisch wütend an und später noch Paul, als er mich störte, weil er mir etwas zu trinken bringen wollte, was ich mir ebenso gut selbst hätte holen können, denn ich saß ja in der Küche.
    Amy bestand darauf, den Aufsatz zu lesen, obwohl sie das sonst nur auf meine Bitte hin tut. Immerhin stritten wir uns nicht mehr, weil ich nicht mehr mit ihr sprach, und als ich ins Bett ging, hatte sich die Sache erledigt. Ich verstehe durchaus, dass der Schulabschluss nichts ist, »was man auf die leichte Schulter nimmt« wie Paul sagte, aber ich hasse Hamlet wirklich – und nach dem Streit umso mehr. Und jetzt habe ich auch noch dieses blöde Déjà-vu-Gefühl, ohne genau benennen zu können, was mir an der

Weitere Kostenlose Bücher