Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
mich an ihn, als er in Richtung Videothek geht. Drinnen diskutieren wir normalerweise lebhaft darüber, welche Filme es sein sollen, aber heute bin ich nicht richtig bei der Sache. Ich muss an Amy und Paul denken und daran, dass alle Sachen von Adam ganz oben im Schrank auf dem Treppenabsatz verstaut sind. Im ganzen Haus gibt es keinen Hinweis darauf, dass Amy und Paul einen Sohn hatten.
Es gibt nicht einmal Fotos, bis auf eines in Pauls Brieftasche, das ich entdeckte, als er mich bat, seine Kreditkarte zu holen. Amys Bild von Adam befindet sich in dem Medaillon, das sie stets trägt: Adam ist auf der einen Seite zu sehen, auf der anderen ihre Eltern.
Ich habe es nur zwei Mal zu Gesicht bekommen. Zum ersten Mal, als ich gerade bei Paul und Amy eingezogen war. Da kannte ich die beiden schon über ein Jahr und war mehrmals zur Probe bei ihnen zu Besuch gewesen. Ichsaß am einen Ende des Küchentischs und machte Mathehausaufgaben, Paul brütete am anderen Ende über irgendwelchen Steuersachen, und Amy war eifrig mit Kochen beschäftigt und drehte am Radio herum. Ich hätte das Buch am liebsten zugeknallt und gegen die Wand geworfen, genau wie alles andere auf dem Tisch. Obwohl ich wusste, dass Amy mich im schlimmsten Fall ermahnen würde, verkrampfte sich mein Magen, als ich nach dem Buch griff. Ich hatte bei Fionas Eltern nie etwas durch die Gegend geschmissen, und ich würde hier, bei Amy und Paul, die mich immer so gut behandelt hatten, nicht damit anfangen.
Also ließ ich das Buch los, verschränkte die Arme darauf und ließ den Kopf sinken. Ich seufzte tief. Amy setzte sich sofort neben mich und wischte ihre Hände am Geschirrtuch ab.
»Darf ich?«, fragte sie mit ermutigendem Lächeln und zeigte auf das Buch.
Ich richtete mich auf und schob es ihr hin. »Ich kapiere das einfach nicht.«
»Scheint in der Familie zu liegen. Adam hat Bruchrechnen auch immer gehasst«, sagte sie. Ich konnte merken, dass sie das nicht hatte sagen wollen – dass es ihr herausgerutscht war –, denn sie wurde sehr still, und Paul zog die Füße vom freien Stuhl.
»Wie sah Adam aus?«, fragte ich, denn sie hatten noch nie über ihn gesprochen, seit ich bei ihnen war. Nicht, dass sie mir etwas verheimlicht hätten. Ich wusste von Anfang an, dass ihr Sohn sehr jung gestorben war. Und da ich außerdem wusste, dass sie nicht gern darüber sprachen, mochte ich nicht fragen, sondern wartete ab, bis einer von beiden die Rede auf ihn brachte.
Paul und Amy schauten sich über meinen Kopf hinweg an. Unterschiedlichste Gefühle überflogen Amys Gesicht in so rascher Folge, dass man fast hätte glauben können, sie würde zum Spaß Grimassen schneiden. Dann holte sie tief Luft, strich der ganzen Länge nach über ihre Arme. Ich dachte erst, dass sie es tut, weil sie noch feuchte Finger hat, aber vielleicht war die Geste auch instinktiver – ein Versuch, den Schmerz aus der Brust zu ziehen, ihn abwärts zu drücken, wegzuschieben, aus ihren Fingern zu entlassen.
Ich wollte mich gerade entschuldigen, sagen, dass ich es gar nicht wissen muss, dass es mich nichts angeht … Aber Amy war schon aufgestanden.
Ich dachte, sie wollte weggehen, aber sie schob ihren Stuhl zur Seite, setzte sich so hin, dass wir uns fast gegenübersaßen. Sie bewegte sich so gemessen, als wäre höchste Vorsicht geboten. Dann zog sie das Medaillon unter ihrem Pullover hervor und senkte den Kopf, als sie den winzigen Verschluss mit einem Fingernagel öffnete. Ich drehte mich auf meinem Stuhl so, dass ich es betrachten konnte, während sie es mir hinhielt.
»Wer sind die beiden?«, fragte ich, indem ich auf das andere Foto zeigte.
»Das sind meine Eltern.«
Ich zog Amys Hand näher zu mir heran, weil ich die kleinen Gesichter im Licht, das sich im Glas des Medaillons spiegelte, nicht erkennen konnte. Amys Finger waren wie erfroren, kalt und starr. Sie beugte sich vor, Stückchen um Stückchen, bis unsere Köpfe einander berührten. Dann zuckte sie plötzlich auf ihrem Stuhl zurück und drückte das Medaillon gegen ihre Brust, als wollte sie es beschützen.
Gesicht und Augen waren ausdruckslos. Dann kam sie wieder zu sich.
»Meine Güte«, sagte sie in einem Ton, dessen Schwermut die Leichtigkeit ihrer Worte Lügen strafte. »Ich habe mich kurz hinreißen lassen. Jetzt lass uns einen Blick auf deine Mathehausaufgaben werfen.«
Als ich mich wieder den Büchern zuwandte, merkte ich, dass Paul gegangen war.
Das war eines der wenigen Male, dass in Anwesenheit
Weitere Kostenlose Bücher