Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
beider die Rede auf Adam kam. Im Laufe der Jahre erfuhr ich noch mehr, aber immer nur, wenn ich mit einem von beiden allein war. Dann blitzten glückliche Erinnerungen auf. Bruchstücke. Fragmente eines anderen Lebens. Unter vier Augen haben sie mir nie eine Antwort auf die wenigen Fragen verweigert, die ich zu stellen wagte, haben das Gespräch jedoch immer rasch beendet. Wenn ich ganz dringend etwas über Adam wissen will, frage ich Onkel Ben, und wenn ich etwas über Tante Minnie in Erfahrung bringen möchte, frage ich Amy und Paul.
Die beiden haben mich zwei Jahre nach Adams Tod bei sich aufgenommen, aber Onkel Ben hat sich seit Tante Minnies Tod mit keiner Frau mehr getroffen. Ich denke immer öfter, dass er einen kleinen Schubs brauchte, damit er sich ein wenig weiterbewegt. Und ich werde mir zum ersten Mal der Unterschiede zwischen den dreien bewusst: Paul und Amy haben ein neues Kind gefunden, das sie lieben können, aber Onkel Ben ist immer noch allein. Doch dann gelange ich zu der überraschenden Erkenntnis, dass Amy und Paul in ihrem Leben im Grunde genauso auf der Stelle treten wie Onkel Ben – sie haben zwar den Versuch unternommen, ein neues Leben zu beginnen, aber haben dafür die Erinnerungen an Adam in ein Zimmer gesperrt, die Tür verriegelt und diese dann übertapeziert, um so tun zu können, als wäre sie nicht mehr vorhanden, als würden weder Tür noch Zimmer existieren. Vielleicht glauben sie sogar, dass all die kaputten Dinge darin vermodert wären, wenn sie die Tür eines Tages wieder öffnen würden; dass sie Holzsplitter und Glasscherben, die im Laufe der Zeit stumpf geworden sind, gefahrlos zur Hand nehmen könnten; dass alles weich wie Asche wäre.
Ich habe das auch versucht. Mit meinen Erinnerungen an Fiona und ihre Eltern. Immer vergeblich. Es hat nie geklappt. Ich konnte wegen meiner schmerzenden Rippen nie so tun, als wäre nichts gewesen, konnte mir nie einreden, schon immer die Tochter von Paul und Amy gewesen zu sein. Und ich habe mir alles Mögliche eingeredet. Aber meine Rippen verschoben sich knirschend, und ihre Enden rieben sich aneinander, oder ich spürte einen stechenden Schmerz in der Brust, wenn ich mich umdrehte – und dann lag alles nicht mehr in der Vergangenheit, sondern war gegenwärtig. Und die Gegenwart kann man nicht wegreden.
Während ich in der Videothek durch die Gänge schlendere, kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht sogar schlimmer wäre, wenn man alles wegsperren, das Zimmer verriegeln und die Tür übertapezieren könnte. Die Lösung, das Leid einfach wegzusperren, scheint anfangs vielleicht die einfachste zu sein, könnte sich am Ende jedoch als mühsam erweisen, denn wenn der Wind durch einen Spalt pfeift und die Dinge im Zimmer rascheln lässt oder verschiebt, müsste man jedes Mal die Ohren verschließen. Gut möglich, dass es so weniger schmerzt, aber die Vorstellung einer Höhle voller kaputter und aussortierter Dinge, die Teil eines glücklichen Lebens waren, finde ich unsäglich traurig.
Paul stellt mir eine Frage, und ich brumme nur. Das scheint ihm als Antwort zu genügen, denn er geht zur Kasse. Ich folge ihm langsam.
Als ich die Fotos im Medaillon zum ersten Mal sah, wollte ich unbedingt auch meines darin haben. Inzwischen bin ich nicht mehr eifersüchtig. Amy trägt Adams Bild zwar immer bei sich, aber es ist weggeschlossen. Und ich habe alles andere.
»Geht es um das, was Paul und Onkel Ben treiben?«, frage ich schnaufend, während ich auf einem Feld mit Blumenkohl oder einem anderen Gemüse durch eine Furche stapfe. In der fast vollständigen Finsternis des Marschlands sind die Reihen der Pflanzen nur als dunkle Streifen zu erkennen. Es ist so finster, dass ich ebenso gut zwischen kleinen Büschen laufen könnte, an denen Spiralnudeln hängen. »Gibt es denn keinen anderen Weg? Einen schöneren?« Der Drache lässt sich nicht zu einer Antwort herab. Also schweige ich auch.
Die Welt ist lila und samtblau, die Dunkelheit wie schwarzer Nebel. Wie verwandelt. Manchmal bilde ich mir ein, dass sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hätten, aber im nächsten Moment verblasst das Bild der Landschaft und wird zu etwas anderem. Der Horizont, sonst ein fahler, von den Lichtern des fernen Cambridge orange-grau erhellter Strich, ist heute rostbraun wie altes, getrocknetes Blut.
Doch mit dem Drachen auf meiner Schulter fürchte ich mich nicht. Mir schwirrt nur langsam der Kopf, weil ich nicht mehr weiß, wo ich bin. Der Grund ist
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