Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
dass du weiter heimlich im Dunkeln auf dem Treidelpfad herumstromern willst«, sagt sie.
»Ach, du weißt doch, wie das ist«, sage ich leichthin. »Mit vierzehn muss man vorsichtig mit solchen Versprechen sein. Wir brauchen manchmal die Freiheit, in tiefster Nacht nach draußen gehen zu können, um dort unsere geheimen, magischen Kräfte auszuprobieren … zu einer … Rächerin des Unrechts oder zu einer Retterin von … äh … verschmähten, ungepflückten Brombeeren zu werden.«
»Versuch bitte, tagsüber Brombeeren zu retten«, sagt Amy, »oder sag in Zukunft Paul oder mir Bescheid, bevor du dich rausschleichst, um dich mit Brombeersaft zu bekleckern.«
Ich ziehe ein Gesicht. »Damit ihr den Ruhm für meine mutige Rettungstat einheimst, meinst du?« Ich seufze tief auf. »Na, ich schätze, ich sollte ein paar jener armen Seelen, die ich dem mörderischen Griff der Fäulnis entreiße, mitbringen, damit sie Zeugnis von meiner Größe ablegen«, sage ich.
Dies führt zu der Diskussion, ob wir die Orangenmarmelade in diesem Jahr kochen sollen, wenn die Sevilla-Apfelsinen reif sind, und Amy scheint abgelenkt zu sein. Sobald sie in den Garten gegangen ist, um die abgestorbenen Blätter von den Rosensträuchern zu zupfen, fische ich eine leere Plastikflasche aus dem gelben Sack, fülle sie mit Wasser und verstecke sie in meinem Schrank. Amy darf nicht merken, wie nass und dreckig meine Turnschuhe immer sind, denn sonst würde ich wieder in der Klemme sitzen. Wenn ich sie jede Nacht im Bad abwaschen würde, dann würde ich geradezu darum betteln, ertappt zu werden, und aus dem gleichen Grund kann ich sie auch nicht im Garten verstecken, denn der wird bis in den letzten Winkel gehegt und gepflegt. Also muss ich sie aus dem Fenster halten und abspülen; so kann niemand Lunte riechen.
Heute ist der Hochzeitstag von Onkel Ben und Tante Minnie. Oder besser: Es wäre ihr Hochzeitstag gewesen. Schade, dass Onkel Ben nicht von Tante Minnie erzählt, aber er scheint die Erinnerung an sie nicht ertragen zu können, und ihr Name kommt nie über seine Lippen. In diesem Jahr ist es wie immer, seit ich bei Amy und Paul lebe: Onkel Ben besucht uns am Abend zuvor, fröhlich wie üblich, nur schenkt er sich beim Abendessen ein Glas Wein nach dem anderen ein. Wenn Amy zwischendurch in der Küche steht, versuche ich anzudeuten, dass ich jetzt alt genug sei, um über ernsthafte Themen zu reden, dass ich gern zuhören und dass es mich nicht belasten würde. Ja, dass ich sogar bereit wäre, über den Grund für meine Wut zu sprechen, denn was sie belastet, verraten sie nicht, aber weder Paul noch Onkel Ben nehmen mein Angebot zur Kenntnis. Unsere Unterhaltung beschränkt sich auf lustige, leichtere Themen, aber nachdem Amy und ich zu Bett gegangen sind, reden die beiden noch bis spät in die Nacht. Ich traue mich nicht, sie von der Treppe aus zu belauschen – nicht heute Nacht, denn Amy wird sicher in Abständen nach ihnen schauen.
Am nächsten Morgen sitzt Onkel Ben schon in der Küche, als ich runterkomme, und lässt einen Kaffeebecher zwischen den Händen kreisen, während Amy Pfannkuchen backt.
In diesem Jahr fällt der Hochzeitstag zum ersten Mal, seit ich bei Amy und Paul bin, auf ein Wochenende. Ich muss also nicht zur Schule, Paul fährt nicht zur Arbeit, und Onkel Ben muss sich nicht freinehmen. Stattdessen frühstücken wir alle gemeinsam. Ganz gemütlich. Und schweigend. Amy und Paul haben den Tag offenbar vorher geplant, denn nachdem der Tisch abgeräumt worden ist – Onkel Ben hilft ausnahmsweise nicht, sondern sitzt nur da und dreht seinen Becher unablässig im Kreis, als könnte er darin etwas sehen, sobald der Kaffee im richtigen Tempo schwappt –, holt Amy Hut, Mantel und Schal und bearbeitet Onkel Ben so lange, bis dieser auch den Mantel anzieht. Dann verschwinden sie durch den Garten.
Ich schaue ihnen aus dem Küchenfenster nach, bis Paul neben mich tritt und mir eine Hand auf die Schulter legt. »Wenn du möchtest, können wir auch einen Spaziergang machen«, bietet er an.
Ich schüttele den Kopf. Draußen fällt ein Nieselregen, und es ist nasskalt, ein Wetter, das so gar nichts von dem Reiz jener taufeuchten Nebelmorgen hat, von denen in Kindergedichten oft die Rede ist. An Tagen wie diesem ist die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt, und das Marschland stinkt nach vermoderndem Schilf und trüben Teichen. Der Nebel durchdringt die Kleider, und am Ende ist die Haut so feuchtwarm wie bei Fieber. Ich winde
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