Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Grenzen: Ich verströme mich in die Weite der Nacht, wachse in die Breite, gewinne an Kraft.
Bei Dunkelmond schreitet man nicht immer zur Tat , sagt der Drache leise. Man kann sich vorbereiten und Kraft sammeln. Bei Dunkelmond schmiedet man Pläne, ohne diese gleich umzusetzen. Und wir müssen viele Pläne schmieden. Aber später, wenn die Tage länger und die Nächte heller sind, werden wir zuschauen, wie die Nymphen sich in Libellen verwandeln, verspricht der Drache. Dann wirst du den säuerlichen Duft im Mondschein wachsender Narzissen kennenlernen und in der lauen, mitternächtlichen Luft mitten in wild wucherndem Geißblatt stehen. Ich werde dir zeigen, wo du Veilchen und Schlüsselblumen am Flussufer pflücken kannst. Wo du auf Minze und wildem Thymian laufen kannst, so dass die Luft bei jedem deiner Schritte von einer duftenden Wolke erfüllt ist. Dann werden wir Fuchsjunge und frisch geschlüpfte schwarze und kugelrunde Teichhühner sehen. Und in der Morgendämmerung werden wir zuschauen, wie sich die Sonne aus dem Wasser erhebt.
»Bitte sehr«, sagt Onkel Ben und drückt mir eine große Tüte in die Hand, noch bevor ich die Tür ganz geöffnet habe.
Ich trage das Geschenk in die Küche, während er seinen Mantel aufhängt. Ein Buch über Dalí: ein herrliches Buch mit Hochglanzseiten, die Reproduktionen von Gemälden und Fotos von Skulpturen und Glasarbeiten zeigen. Ich werfe die Arme lachend Onkel Ben um den Hals. »Vielen Dank!«, will ich sagen, kann aber nur quietschen, denn das Buch ist toll, aber noch toller ist es, einen Onkel zu haben, der mir so etwas schenkt, nur weil ich die Traumsequenz von Hitchcocks Film Ich kämpfe um dich , den wir am letzten Wochenende geguckt haben, so unglaublich gut fand.
Onkel Ben drückt mir einen Kuss auf die Wange, ich lasse mich auf einen Stuhl fallen, um das Buch in Ruhe zu betrachten. Dann beugt er sich über mich, um gemeinsam mit mir zu gucken.
Ich will gerade erstarren, weil jemand, den ich nicht sehen kann, mit unbekannter Absicht dicht hinter mir steht … da zieht er den neben mir stehenden Stuhl heran und setzt sich. Als hätte er das sowieso vorgehabt. Ich beuge mich zu ihm hin, will mich entschuldigen, suche nach Worten, um ihm zu erklären, dass es nicht an ihm liegt, aber er legt mir nur einen Arm um die Schultern, drückt mich und wenn: »Vielleicht komme ich ohne eine Rüge von Amy davon, wenn ich dich verwöhne, denn es ist ja ein Kunstband.« Er klingt kein bisschen beleidigt, sondern ganz normal und als wäre nichts weiter passiert.
Ich raffe mich zu einem schwachen Grinsen auf. »Aber nur vielleicht«, erwidere ich und es gelingt mir, fast fröhlich zu klingen.
Onkel Ben verdreht etwas übertrieben die Augen und grinst auch, während er mich davon abhält, die Seite umzublättern. »Alice im Wunderland«, liest er.
Ich starre die Bildunterschrift an, erleichtert, dass ich Alice in dieser Plastik nicht erkennen kann. Sie ist hübsch, aber wenn ich Alice darin erblicken würde, fände ich sie trotzdem scheußlich.
Die Plastik stellt ein Mädchen dar. Sie hat ein Springseil hoch über ihren Kopf geworfen. Sonderbarerweise laufen Hände und Haare in Blumen aus, und das Oberteil ihres Kleides fehlt. Sie ist nackt bis zur Taille. Noch sonderbarer ist, dass sie nicht springt. Sie lehnt oder beugt sich zur Seite wie bei starkem Wind. Und obwohl sie keine Gesichtszüge hat, wirkt ihr Kopf auf Grund der Neigung hochkonzentriert – seine Haltung scheint zu besagen, dass sie alles geplant hat, diesen ganzen erstarrten Augenblick. Sie wurde vom Bildhauer nicht zufällig beim Seilspringen ertappt. Nein, sie hat diesen Augenblick bewusst gewählt. Und das gefällt mir: Ich finde es gut, dass sie selbst entschieden hat, wie man sie sehen soll.
Die rechts neben ihr aufragende Stange verdirbt jedoch alles. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Krücke sein soll, und ich finde sie grässlich. Ich wünschte, ich könnte in das Bild greifen, die Stange rausziehen und wegwerfen. Ich weiß nicht, ob sie dort steht, um dem Betrachter zu sagen, dass das Mädchen sie nicht nötig hat – dass sie alles im Griff hat –, oder ob das Mädchen gleich zur Seite kippt und stürzt, weil die Stange knapp außer Reichweite ist.
Als an der Haustür geklingelt wird, zucken wir zusammen. Ich habe ganz vergessen, dass Miss Winters heute kommt. Onkel Ben folgt mir langsam, als ich zur Tür renne. »Mein Onkel hat mir das tollste Geschenk mitgebracht«, sage ich zur
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