Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Flasche nimmt.
»Wie du weißt, war ich ganz deiner Meinung – jedenfalls solange uns eine Handhabe gefehlt hat, um der Sache Einhalt zu gebieten. Aber wir haben jetzt Fotos, mit deren Hilfe die Polizei diese kleinen Mistkerle identifizieren kann, und deshalb habe ich das Gefühl, ihr etwas zu verheimlichen.«
»Ja, und das mit gutem Grund. Um Himmels willen, Paul, ich war schließlich auch mal verheiratet. Ich verstehe dich. Aber wenn ich Minnie etwas verschwiegen habe – vor allem etwas, das sie in Angst und Sorge versetzt hätte –, dann nur, um die Frau zu beschützen, die ich liebte. Ich halte das für ein Gebot der Vernunft. Geheimnisse sind an sich nicht verwerflich, Paul. Nicht jeder muss alles wissen.«
»Aber es ist unser Sohn, Ben. Unser beider Sohn. Nicht nur meiner.«
»Ja. Und deshalb habe ich dir geraten, mit Evie zu sprechen. Sie würde dir den gleichen Rat geben wie ich, und von ihr würdest du ihn annehmen. Du weißt, wie verschwiegen sie ist. Evie kann Geheimnisse besser hüten als wir beide zusammen.« Nach einer Weile fügt er hinzu: »Du musst mit jemandem über Adam reden, Paul. Amy mag noch nicht dazu bereit sein, aber vielleicht würde Evie gern etwas über ihren Bruder erfahren.«
Paul stößt einen Laut aus, den ich nicht einordnen kann.
»Vielleicht würde Adam für sie zum Bruder werden, wenn du redest, Paul – wenn du ihn durch Erzählungen für sie wieder lebendig machen würdest. Und sie könnte dir dabei helfen, ihn in Gedanken weiterleben zu lassen.«
»Nicht, Ben«, erwidert Paul so leise, dass ich ihn kaum hören kann. »Nicht.«
Onkel Ben legt Paul eine Hand auf die Schulter. »Amy ist nicht die Einzige, die ihn verloren hat. Klar – sie muss damit umgehen, wie es für sie am besten ist. Aber hast du dich je gefragt, was für dich am besten ist? Evie ist sehr klug, Paul. Klug, mutig und stark.«
»Evie hat schon genug Leid zu tragen …«
»Erzählen bedeutet nicht unbedingt belasten, Paul. Vielleicht wäre es wohltuend für Evie, wenn sie merkt, dass du sie für voll nimmst. Hör auf, sie ständig zu beschützen.«
»Ich weiß genau, wie stark sie ist, Ben«, sagt Paul, und ich habe ihn noch nie so wütend erlebt. »Und rede mir ja nicht ein, dass Evie nicht beschützt werden müsste.«
»Ja, sie muss beschützt werden«, sagt Onkel Ben leise. »Aber nicht vor dem Leben.«
Paul seufzt. »Wir sind nicht überbehütend. Jedenfalls nicht allzu sehr. Amy mag manchmal den Eindruck erwecken, aber bitte glaub mir, Ben: Sie versucht, Evie ausreichend Freiraum zu lassen. Das ist uns wichtig .«
»Ich weiß, Paul«, sagt Onkel Ben begütigend. »Ich weiß, wie gut ihr euch um Evie kümmert. Aber wäre es nicht denkbar, dass sie sich auch gern um euch kümmern würde? Ihr solltet ihr vielleicht Gelegenheit dazu geben.« Paul holt schnaubend Luft, doch Onkel Ben lässt ihn nicht zu Wort kommen. »Na, lassen wir das. Genießen wir unser Bier und unseren Erfolg. Und vielleicht kommen wir danach sogar noch in den Genuss einer Runde Schlaf!«
Paul lacht rau, aber das nachfolgende Schweigen wirkt entspannt. Die beiden beenden ihre sonderbare Feier, sobald sie ihr Bier ausgetrunken haben. Danach verlässt Onkel Ben den Garten durch die Pforte, und Paul sperrt die Hintertür zu. Als das Licht in der Küche erlischt, springe ich auf und renne durch den Garten, klettere auf den Tisch und von dort auf die Mauer. Ich bücke mich, um die matschigen Fußspuren vom Tisch zu wischen, und klettere dann in mein Zimmer. Im Fenster halte ich inne. Meine Haare kleben feucht auf den Wangen, Matsch tropft auf meinen Hals. Ich bin klitschnass an Brust und Bauch.
Der Drache springt von meiner Schulter auf die Kommode. Als er mit dem Schwanz zuckt, fliegt ein Matschklümpchen gegen den Spiegel. Ich setze mich auf die Fensterbank und ziehe die Schuhe aus, putze sie mit dem Lappen, den ich in der Tasche trage, und pfeffere sie dann in eine Ecke. Danach pelle ich die Strümpfe von den Füßen und werfe sie auf den Kleiderständer, zwänge mich aus der Jeans und bekomme einen Riesenschreck, als ich das Gleichgewicht verliere und fast rückwärts aus dem Fenster falle. Ich rolle die Jeans auf und lege sie weg, schlüpfe aus dem Mantel und drehe ihn auf links, bevor ich ihn auf den Boden fallen lasse. Pullover und T-Shirt folgen. Am Ende hole ich zitternd die Wasserflasche aus dem Schrank, strecke den Kopf aus dem Fenster und wasche meine dreckigen Haare, kämme den Matsch mit den Fingern
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