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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexia Casale
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mich lieben und mir im Notfall ein neues Zuhause geben würden. Aber das passiert sowieso nicht, weil meine Mutter wieder gesund wird, und außerdem habe ich noch meinen Vater.« Sie lächelt tränenmüde, doch ihr Blick ist ruhig und weise. »Du musst mich an all das erinnern, Evie. Lynne würde sich zieren, wenn ich sie darum bitte, und meine Tanten würden mich mit ihrer Liebe erdrücken. Deshalb musst du mir all das in Erinnerung rufen, falls nötig.«
    Ich weiß nicht, was ich erwidern soll. Für einen Augenblick überflutet mich Erleichterung: Ich unterscheide mich vielleicht doch nicht so sehr von normalen Menschen wie Phee.
    Dann durchfährt es mich kalt.
    Denn ich bin anders. Oder war es jedenfalls bis vor ein paar Minuten.
    Ich wollte Phee nur begreiflich machen, dass ich ihr helfen möchte, soweit dies in meinen Kräften steht … Phee war nicht bewusst, worum sie mich gebeten hat, mir jedoch schon. Und genau darin besteht der Unterschied zwischen uns beiden. Oder bestand.
    Wenn die Leute über Unschuld sprechen, verwechseln sie meist etwas. Sie glauben, es hätte damit zu tun, dass man über bestimmte Tatsachen nicht Bescheid weiß, zum Beispiel über Sex oder all die furchtbaren Dinge, die auf der Welt geschehen. Aber Menschen werden nicht durch Tatsachen verändert – sondern dadurch, dass sie begreifen, wie sich diese Tatsachen anfühlen .
    Nur Dummköpfe sind der Meinung, die Unschuld wäre ein lästiger Zustand der Unwissenheit, dem Kinder entwachsen, sobald sie Andeutungen verstehen können. Aber vielleicht sind es gar keine Dummköpfe. Vielleicht sind es einfach nur Leute, die auf eine verkorkste erwachsene Art immer noch unschuldig sind. Denn wenn das nicht so wäre, wüssten sie es besser, dann würden sie begreifen, dass Unschuld, auch wenn sie dies nicht in Worte fassen können, viel umfassender ist. Sie schließt jeden Aspekt unseres Lebens ein, und schließlich begreift man, wie kostbar und wunderbar es ist, unwissend zu sein. Sie schließt all unsere überstürzten Versuche ein, immer mehr Wissen zu erlangen, ohne dass wir ahnen, dass Wissen stets mit Trauer und Verlust einhergeht.
    Ich wollte einfach nur helfen.
    Doch Phee und ich sind plötzlich gar nicht mehr so verschieden. Ich habe die Kluft zwischen uns geschlossen – oder wenigstens verkleinert.
    Schwer zu sagen, warum es mich ausgerechnet heute Nacht wieder zum Friedhof zieht, doch auf halbem Weg über den Golfplatz kann ich Rufe hören und sehe, wie Strahlen von Taschenlampen durch die Dunkelheit zucken. Ich renne zur Mauer und werfe, hinter einer Eibe verborgen, einen Blick über den Rand. Ob ich es wagen kann, nachzuschauen, an welchem Grab gefeiert wird? Ich bin versucht, hinzugehen und die Leute zu fragen …
    Nein , befiehlt der Drache, und ich spüre seinen warmen Atem im Ohr. Wir müssen verborgen bleiben.
    Ich schleichte trotzdem zur Pforte und betrachte die Klinke, frage mich, ob ich sie lautlos öffnen kann. Erst da wird mir bewusst, dass sich die Leute in einem anderen Abschnitt des Friedhofs aufhalten. Weit weg von den Gräbern Adams, Tante Minnies, Opa Peters und Tante Florries …
    Da blitzt etwas auf.
    Noch ein Blitz. Noch einer. Und noch einer.
    Ich ducke mich wieder hinter die Mauer, packe den Pfosten der Pforte und spähe durch das Eisengitter, obwohl ich besser verschwinden sollte. Ich spüre die Klauen des Drachen in der Haut über dem Brustbein.
    Die Rufe klingen plötzlich panisch, ängstlich und wütend.
    Wieder ein Blitz! Und wieder! Und wieder!
    Ich begreife, dass es das Blitzlicht einer Kamera ist. Jemand macht Fotos.
    Aber dieser Jemand gehört nicht zu den Leuten, die vorhin gebrüllt haben. Nein, diese Leute rennen jetzt weg. Sie fluchen und rennen. Einer hat die Taschenlampe verloren, und in ihrem Schein kann ich sehen, wie ein Kerl mit roter Bomberjacke nach der schwarzen Kapuzenjacke eines anderen Typen greift.
    »Das sind nur zwei! Los, wir schnappen uns die Kameras!«, brüllt der Kerl in Rot und gestikuliert so wild, dass Bier aus seiner Flasche spritzt.
    »Wir haben die Polizei gerufen«, ruft jemand aus der Dunkelheit.
    Der Typ mit der schwarzen Kapuzenjacke flucht, schüttelt die Hand des Kerls in Rot ab und läuft schwerfällig davon.
    Der Kerl in Rot steht schwankend da, doch als die Kamera wieder aufblitzt, wendet er sich ruckartig ab. Er schleudert die Bierflasche in die Dunkelheit, und trotz der lauten Flüche, die er in die Nacht brüllt, kann ich hören, wie sie an einem Grabstein

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