Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
heraus.
Nachdem ich meine Haare mit dem ausgezogenen T-Shirt abgerubbelt und das Bündel nasser, dreckiger Kleider in den Wäschekorb gestopft habe, zittere ich wie bei Schüttelfrost. Meine Zähne klappern so heftig, dass mein Kiefer schmerzt. Der Drache sieht stumm zu, wie ich Nachthemd und Bademantel überstreife und mich in meine Decke wickele. Ich kuschele mich im Bett zusammen, verschränke die Arme vor der Brust und lege eine Hand auf meine Rippen, als könnte ich den Schmerz wegdrücken.
»Jetzt wissen wir also Bescheid«, flüstere ich ins Dunkel.
Ich spüre etwas Seltsames – als würde jemand einen Kreis auf meine Kniescheibe zeichnen. Als ich den Blick senke, sehe ich, dass sich der Drache wie eine Katze aufrollt. Schließlich liegt er gemütlich, und ich spüre seine Klauen durch die Decke auf meiner Haut.
Manchmal ist das, was man will, nicht das, was man braucht , sagt der Drache.
»Sehr originell«, erwidere ich schnippisch.
Manchmal , fährt der Drache unbeeindruckt fort, glaubt man, etwas zu wollen, obwohl man in Wahrheit etwas vollkommen anderes will.
»Ich will, dass du nicht nur in Rätseln sprichst. Das ist schon lange nicht mehr beeindruckend, sondern nur noch langweilig«, gebe ich zurück. Meine Lippen beginnen zu beben.
Ich verdränge den Gedanken an Paul und Onkel Ben, die mit ihren Bierflaschen anstoßen, um ihre Tapferkeit im Angesicht der Gefahr zu feiern.
Das war weder, was du wolltest, noch, was du brauchst , sagt der Drache. Das war eine leicht zu erfüllende Hoffnung. Hast du dadurch irgendein Problem gelöst?
»Jedes Problem!«, zische ich. »Alle Probleme.«
Der Drache betrachtet mich seelenruhig. Du weißt längst, wie sehr du geliebt wirst. Du weißt, dass deine Familie Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um dich vor Gefahren zu beschützen. Nein, was wir heute Nacht erfahren haben, sind keine erschreckenden Neuigkeiten.
Der Drache hat natürlich Recht. Ich wollte nicht, dass Paul und Onkel Ben etwas Schreckliches tun. Denn das hätte sie im Kern zerstört … Aber wenn sie etwas Schreckliches getan hätten, dann hätten sie vieles begriffen … Dann wären sie jetzt wie ich. Wie ich und Fiona und Fionas Eltern. Jedenfalls ein wenig. Und das möchte ich nicht. Nie und nimmer.
Na ja – manchmal schon. Denn manchmal scheinen Amy und Paul, Onkel Ben und Miss Winters so anders zu sein als ich, dass ich das Gefühl habe, eines dieser Wechselbälger zu sein, wie sie in Märchen vorkommen. Andererseits bin ich unendlich froh, dass Paul und Onkel Ben nicht von meinem Leben mit Fionas Eltern berührt, von dessen Schwärze nicht gestreift worden sind. Trotzdem …
»Was weißt du denn schon?«, frage ich den Drachen in der Erwartung, wütend und erstickt zu klingen. Doch die Wörter entringen sich mir mit einem Schluchzen der Eifersucht, die so stark ist, dass sie in Wut umschlägt – denn ich würde den billigen Triumph von Paul und Onkel Ben gern verspotten, ihre selbstbezogenen Pläne verhöhnen und ihren »Mut« beim Fotografieren dieser besoffenen Volltrottel abwerten. Aber das klappt nicht. Das klappt nicht, klappt nicht. Ich würde die beiden gern verachten, bin jedoch von unbändiger Wut und einer an Hass grenzenden Eifersucht erfüllt. Ja, ich hasse die beiden fast, hasse sie für den naiven Glauben, sie wären in Gefahr gewesen. »Das soll Gefahr sein?«, würde ich am liebsten rufen. »Wie kommt es, dass sie nicht wissen, was echte Gefahr ist?« Meine Wut, in die sich Trauer mischt, tiefe Trauer, tost in mir wie ein Schneesturm, denn ich finde es ungerecht, dass sie in ihrem Alter noch so naiv sind; ich finde es ungerecht, dass es in meinem Leben über Jahre hinweg keinen einzigen Moment gab, in dem ich mich ungefährdet gefühlt hätte; finde es ungerecht, dass ich mich nicht einmal vage daran erinnern kann, jemals frei von Angst gewesen zu sein.
Dabei vergesse ich fast, dass ich die beiden liebe. Stattdessen hasse ich sie, weil sie nicht wissen, was Bedrohung und Gefahr bedeuten. Ich hasse sie, weil ich immer im Schatten von Gefahr und Bedrohung leben musste. Ich hasse sie, weil ich mich danach sehne, so sehr danach sehne, dass dieser Schatten sich endlich verflüchtigt …
»Was weißt du denn schon?«, wiederhole ich und würde gern brüllen, flüstere aber nur.
Der Drache steht aufrecht da, reckt stolz den Kopf, in seinen dunklen Augen spiegelt sich der Mondschein. Alles , sagt er.
»Ich bin todmüde«, sage ich mit schwacher Stimme.
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