Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
lange es dauern wird.« Phee nippt an der heißen Schokolade. Dann blinzelt sie und senkt ihren Blick auf den Becher, als hätte sie nicht gemerkt, dass sie daraus getrunken hat.
»Ich will nicht gemein sein, zumal ich weiß, dass mein Vater viel um die Ohren hat, aber ich habe mich gefragt …« Sie verzieht seufzend das Gesicht. »Na ja, wegen deiner Rippen. Ich meine – du hast nie viel über den Unfall erzählt, nur dass er passiert ist, als du mit deiner Mutter vom Krankenhaus zurückgefahren bist … Und ich weiß, dass sie schwer krank war, und deshalb waren vermutlich alle abgelenkt, und als ihr danach zu Fuß weitergegangen seid, haben alle geglaubt, du wärst auch unverletzt, aber … warum haben deine Großeltern nicht gemerkt, dass du verletzt warst? Ich würde ja begreifen, wenn sie ein paar Stunden, vielleicht sogar einen Tag nichts bemerkt hätten, aber wieso ist ihnen gar nichts aufgefallen? Und deshalb …«
Sie beugt sich über ihren Becher, und ich weiß, dass sie gleich sagen wird, was ihr wirklich Angst macht. »Ich habe Angst, dass mein Vater auch so wird«, sagt sie und nuschelt dabei so sehr, dass ich sie anfangs nicht richtig verstehe. »Ich habe Angst, dass er mich immer öfter vergisst, und …« Sie verkrampft ihr Gesicht, und ihre nächsten Worte beben vor unterdrückten Schluchzern. »Und ich weiß, dass das B-Blödsinn ist, denn es ist ja erst ein-einmal passiert, und d-das nur beim Ab-Abholen von der Schule, aber …«
Ich schließe die Hand um den Drachen in meiner Tasche.
»Das wird bestimmt nicht passieren, Phee. Dein Vater liebt dich.«
»Ich weiß«, sagt Phee, und ihr Gesicht verkrampft sich noch mehr, als sie Schnodder von ihrer Oberlippe leckt.
Ich drücke ihr die Packung mit den Taschentüchern in die Hand und halte ihren Becher, während sie sich schnäuzt und danach ihr Gesicht abwischt.
»Ja, mein Vater liebt mich, aber deine Großeltern haben dich auch geliebt. Alte Leute sind zwar manchmal etwas verrückt, aber …«
Ich gebe ihr den Becher zurück. Sie sieht mich stirnrunzelnd an, während sie daran nippt. »Dein Vater ist in keiner Weise mit meiner … mit Fionas Familie zu vergleichen«, sage ich.
Das versteht Phee natürlich nicht. Sie runzelt die Stirn, holt tief Luft und sieht mich an, als wäre sie sauer auf mich, weil ich wirres Zeug rede.
»Das mit meinen Rippen … das war kein Autounfall«, sage ich. »Eines Tages … ich erzähle euch irgendwann alles. Dir und Lynne. Aber ihr müsst mir versprechen, es für euch zu behalten. Ihr könnt es gern euren Eltern erzählen, aber in der Schule müsst ihr schweigen. Wie ein Grab.«
»Aber was …?«, setzt Phee an und schaut noch verwirrter drein.
Das entlockt mir trotz allem ein Lächeln. Insgeheim bin ich allerdings froh, dass Phee nicht begreift. Vielleicht kommt sie noch darauf, aber das kann dauern. Zum Glück. Andererseits habe ich das Gefühl … Ich lasse den Gedanken fallen.
Am liebsten würde ich alles vergessen, was mich so sehr von Phee und Lynne unterscheidet.
Früher oder später werden auch sie davon erfahren – und sei es durch die Erzählungen anderer. Aber noch nicht. Und was mich betrifft, so kann ich zwar nicht vergessen, wüsste aber gern, wie sich das Vergessen anfühlt.
»Im Moment ist das sowieso unwichtig«, sage ich. »Es spielt keine Rolle. Ich wollte nur sagen, dass meine … Sie wurden nicht durch Fionas Krankheit davon abgehalten, mich ins Krankenhaus zu bringen. Bei ihnen ging es nicht darum, was sie bemerkt oder nicht bemerkt haben.«
Phee ist ganz still geworden. »Evie …«, sagt sie.
»Heute nicht, Phee«, sage ich, und mir wird bewusst, dass Neid und Sehnsucht hier keine Rolle spielen, dass es mir gar nicht so schwerfällt, die richtigen Worte für Phee zu finden. »Ich weiß, dass du mir zuhören würdest, aber für heute soll es genug sein. Du kannst mich gern nach Fiona und ihrer Krankheit fragen, aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass es deinem Vater auffallen würde, wenn du krank oder verletzt nach Hause kämst. Vielleicht versäumt er noch ein paar Mal, dich von der Schule abzuholen, aber dann gehst du eben mit Lynne oder mir nach Hause.«
Phee ergreift meine Hand und verschränkt unsere Finger ineinander.
»Du musst mich unbedingt daran erinnern, wie froh ich sein kann, Evie«, sagt sie nachdrücklich. »Denn ich darf nicht vergessen, wie super meine Eltern und meine Tanten, Onkel und Großeltern sind. Ich kenne so viele Menschen, die
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