Die Nacht im Stau (German Edition)
Dreiviertelstunde später völlig erschöpft.
„So wie bisher geht es jedenfalls nicht weiter.“ Sonja fühlte sich komplett ausgelaugt, unfähig zu weiteren klaren Gedanken. Sie wollte nur noch nach Hause, unter ihre Bettdecke kriechen, ihren Tränen freien Lauf lassen, bis sie sich beruhigt hatte, bis sie wieder wusste, was richtig für sie war, wie sie diese Weiche in ihrem Leben stellen sollte.
„Gehen wir noch zu dir?“
„Nein, ich will alleine sein.“
„Reden wir morgen noch mal darüber?“
„Morgen habe ich keine Zeit.“
„Da steckt doch jemand dahinter!“
„Ich habe keine Zeit und damit basta.“
„Wann sehen wir uns denn wieder?“
„Dieses Wochenende brauche ich unbedingt erst mal Ruhe. Ich melde mich bei dir.“
Sechzehn Uhr dreißig. Mit dem bekannten Piepton schaltet sich das Radio für die Verkehrsnachrichten ein.
„Auf der A 8 von Leonberg in Richtung Karlsruhe hat sich fünf Kilometer nach der Ausfahrt Pforzheim West ein Unfall e reignet. Ein LKW ist bei plötzlich einsetzendem Schneetreiben gegen eine Brücke gestoßen. Die Autobahn musste gesperrt werden. Wie lange die Sperrung andauert, ist zurzeit noch unklar. Es wird aber auf jeden Fall bis in die frühen Morgenstunden dauern, bis die Brücke abgestützt ist.“
F ür einen Moment vergisst Sonja das Atmen. Das darf nicht wahr sein! Das ist ja der absolute Albtraum!
Wie Flashbacks tauchen kurze Erinnerungsfetzen auf. Vor ein paar Jahren ist so etwas schon einmal auf der Autobahn in Richtung München passiert. Damals war es ebenfalls Winter. Sonja erinnert sich noch an die Aufnahmen, die sie abends in der Tagesschau gesehen hat. Menschen, die eine ganze Nacht lang in der Eiseskälte ausharren mussten, die furchtbar froren. Kinder, die wegen der Kälte weinten, alte Menschen, die vor Erschöpfung zusammen brachen! Wie froh die Leute waren, als das Rote Kreuz ihnen Decken und warmen Tee vorbei brachte.
Warum, um alles in der Welt, wieder holt sich denn dieser Spuk ausgerechnet heute? Sonja schaut sich verzweifelt um. Es muss doch eine Möglichkeit geben, von der Autobahn abzufahren! Gibt es vielleicht einen Feldweg parallel zur Autobahn? Sie sucht das Gebüsch am rechten Straßenrand ab, doch – nichts! Nichts als dicht bewaldete Hügel, mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt.
Vielleich t bietet sich ja weiter vorne eine Möglichkeit. Sicher werden die anderen Fahrer auch nach einer Lösung suchen. Später wird sie selbst vielleicht eine Weile auf der Standspur entlang gehen.
Das wirklich Blöde ist etwas ganz Akutes. Sie muss auf einmal ganz dringend aufs Klo. Schon seit einer Weile spürt sie es, aber von früheren Fahrten entlang dieser Strecke weiß sie, dass demnächst ein Rasthaus kommt. Dort wollte sie eigentlich zur Toilette gehen. Und falls sie das nicht mehr geschafft hätte, wäre sie auf den nächstbesten Parkplatz abgebogen.
Nun aber sitzt sie fest. Draußen schneit es weiter, nicht sehr stark, aber immerhin. Keine zehn Pferde bringen sie jetzt da hinaus. Wohin soll sie denn auch gehen um sich zu erleichtern? In den verschneiten Wald und alle umstehenden Autofahrer schauen aus ihren Autos zu wie sie pinkelt? Sie kneift die Beine fest zusammen. Nein, diesem Drang darf sie jetzt unmöglich nachgeben.
B estimmt herrschen da draußen einige Grad unter Null. Das kann sie nur ahnen, denn ihr altes Fahrzeug besitzt keine Temperaturanzeige.
Wie soll sie denn mehrere Stunden hier überstehen? Darf man die Autoheizung im Stehen überhaupt unbegrenzt laufen lassen? Sie hat keine Ahnung. Robert könnte es ihr sagen, aber der sitzt noch im Seminar.
Sie schaut auf die Uhr. Zwanzig vor fünf. In eineinhalb Stunden hat Robert Schluss, aber so lange kann sie nicht auf eine klärende Auskunft von ihm warten.
Vielleicht versulz t ja irgendetwas im Motor, wenn der stundenlang läuft? Oder geschieht das nur bei Dieselfahrzeugen? Sie hat da mal so etwas gehört. Und wenn sie das Gebläse nun stundenlang laufen lässt, dann hat sie doch auch die Abgase des Vordermanns im Wageninneren? Egal! Sonja dreht die Warmluftzufuhr an. Lieber schlechte Luft haben als frieren.
Um die Zeit zu überbrücken, schaut sie sich die anderen Fahrzeuge um sich herum an. Direkt vor ihr, auf der Überholspur, steht ein dunkler Mercedes mit PF Kennzeichen. Soweit sie erkennen kann, sitzt ein Ehepaar darin. Die haben es gut. Sie sind zu zweit und können sich wenigstens unterhalten. Oder aber sich streiten. Je nachdem, wie gut sie
Weitere Kostenlose Bücher