Die Nacht im Stau (German Edition)
miteinander auskommen. Sie haben es vermutlich nicht mehr weit, wären demnächst zu Hause gewesen – und nun müssen auch sie hier die halbe Nacht verbringen! Schön blöd. Weiter vorne, auf der rechten Spur, sieht sie den Lastwagen, den sie überholen wollte. Ein Rumäne oder Tscheche, sie kann die Beschriftung auf der Plane nicht zuordnen und das Kennzeichen ist zu weit entfernt. Direkt neben ihr, auf gleicher Höhe, parkt ein Auto, dessen Marke sie nicht ohne weiteres erkennt. Darin sitzt ein älterer Mann. Der scheint die Nachricht vom Stau schon früher gehört zu haben als sie, denn er hat seinen Sitz nach hinten gekippt, die Augen geschlossen und döst vor sich hin. Sie hört, dass auch bei seinem Auto der Motor läuft.
Also darf man das vermutlich.
Sonja ist langweilig. Was soll sie nur tun? Ein Blick zum Navi zeigt, dass sie, wenn der Stau sich jetzt sofort auflösen würde, zehn Minuten nach sechs in Freiburg ankäme, zehn Minuten zu spät. Doch natürlich schafft sie das auf keinen Fall. Wenn das jetzt hier wirklich Stunden dauert, so wie es der Nachrichtensprecher angekündigt hat, dann wird sie womöglich erst mitten in der Nacht ankommen! Und dann? Was wird dann aus ihrem geplanten Wochenende? Und was soll Robert machen? Der hat doch kein Auto, kommt niemals in das reservierte Quartier im Elsass. Wo soll der denn die Nacht verbringen?
Sonja nimmt sich vor, ihm gegen sechs Uhr eine SMS zu schreiben. Darin wird sie die Lage schildern und dann müssen sie entscheiden, ob sie das Wochenende im Elsass abblasen und stattdessen in Freiburg übernachten sollen – sofern sie dort noch zu einer vernünftigen Zeit ankommt – oder ob es eine andere Möglichkeit gibt.
Wenn es draußen doch nur nicht so kalt wär e! Dann könnte sie sich die Beine ein bisschen vertreten, neben der Autobahn auf und ab laufen, mit den Leuten sprechen, vielleicht wirklich in der Nähe einen Feldweg entdecken. So aber? Der Schnee ist zu nass, sie wird völlig durchnässt zurückkommen und danach gibt es keine warme Stube, keinen schönen Tee, keinen Glühwein um sich aufzuwärmen.
Da fällt ihr ein, dass sie ja noch den Tee in der Thermoskanne dabei hat. Weil sie unterwegs möglichst keine große Pause machen wollte und weil man immer genügend Flüssigkeit zu sich nehmen soll, hat sie zu Hause noch einen Pfefferminztee für die Fahrt gekocht. Den kann sie jetzt doch eigentlich trinken, oder nicht? Nein, entscheidet sie sogleich, sie wird ihn aufheben. Noch ist ihr nicht kalt und vielleicht benötigt sie die heiße Flüssigkeit später noch viel mehr.
Der Druck in ihrer Blase ist jetzt nicht mehr auszuhalten. Sie muss wirklich raus. Vom Hintersitz zieht sie ihren Mantel nach vorne und schlüpft umständlich hinein. Sie wird den Motor laufen lassen, beschließt sie. Da stiehlt jetzt bestimmt niemand etwas aus den Wagen, so lange sie weg ist.
Draußen pfeift ihr der scharfe Wind um die Ohren, Schneeflocken peitschen in ihr Gesicht. Sie schlägt den Mantelkragen hoch und eilt, so schnell wie möglich, ins schützende Unterholz. Dort beeilt sie sich und läuft zurück zum Auto. Schnell wieder rein ins warme Gefährt.
Zitternd sitzt sie eine Weile da, reibt ihre kalten Finger aneinander und starrt vor sich hin. Sie ist so durchgefroren, dass sie den Mantel zunächst einfach anlässt. Das Radio ist auf Pause eingeschaltet, sie hat keine Lust zum Musikhören. Lesen will sie auch nicht, obwohl sie ein Buch dabei hat. Sie kann weiter nichts tun als warten.
Wo ist denn nur der Drehknopf für die Sitzverstellung? Sie sucht und findet ihn. Dann macht sie das gleiche wie der ältere Herr nebenan im Auto: sie lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Die Fast-Trennung von damals kommt ihr sofort wieder in den Sinn. Es ist eine unangenehme Erinnerung, die sie, so gut es geht, seither verdrängt hat. Aber nun sind die Gedanken an diese Zeit während der langen Autofahrt aus dem Nichts aufgetaucht und lassen sich nicht mehr abschütteln.
Am Freitagnachmittag, einen Tag nach dem Gespräch auf der Bank, klingelte Robert bei ihr in der Studentenbude. Sonja erschrak, als sie seine Stimme durch die Gegensprechanlage hörte, denn normalerweise arbeitete er um diese Uhrzeit noch. Sofort stand sie unter Anspannung. Was wollte er von ihr? Sie hatte ihn doch um eine Auszeit gebeten! Es gab im Augenblick nichts mehr zu sagen. Außerdem blieben nur noch wenige Stunden bis zu ihrem Treffen mit Dieter und der Abreise ins geplante Wochenende.
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