Die Nacht im Stau (German Edition)
Kanon?“
„Ja, super.“ Sven freut sich sichtlich. „Eine Mollvariante, deshalb nicht sofort zu erkennen. Das Volkslied ist zu einem Trauermarsch umgestaltet, denn, so sagt Gustav Mahler, mit diesem Marsch wird die erste Liebe zu Grabe getragen.“
Sven schweigt und auch Sonja denkt über seine letzten Worte nach.
„ Mahlers erste Liebe?“, hakt sie nach. „Gibt es da einen Bezug in seinem Leben?“
„Ja, dazu existieren Aussagen von ihm. Sein ganzes Leben sei in seinen ersten beiden Sinfonien enthalten, sagte er einmal. Und, ja, er hatte damals mindestens zwei unglückliche Liebschaften.“
„ Gleich zwei! Armer Kerl.“ Erneut schweifen Sonjas Gedanken zu ihrer ersten Liebe ab – Helmut, den sie auf einer CVJM Reise in England kennen gelernt hat. Knapp zwei Jahre waren sie beide zusammen gewesen, aber unglücklich, nein unglücklich würde sie diese Beziehung nicht nennen. Und ihre Liebe zu Robert? Dieses nicht enden wollende Gezerfe? Fühlt sie sich dabei unglücklich? Ja, wenn sie ehrlich ist, belastet sie diese Situation immer wieder aufs Neue.
„ Du bist auf einmal so still?“, unterbricht Sven ihre Gedanken.
Sonja zuckt unmerklich zusammen. Sie spürt, wie er sie von der Seite anschaut. Nein, von diesen Gefühlswirren wird sie ihm gegenüber ganz sicher nichts sagen, dazu sind sie sich viel zu fremd.
„ Ich staune immer noch, wie gut du Bescheid weißt“, erwidert sie teilweise wahrheitsgetreu. „Aber davon hat der normale Zuhörer doch keine Ahnung! Wie soll er ohne dieses Wissen einen Zugang zu Mahlers Musik bekommen?“
„ Genau so, wie es bei dir geschehen ist. Diese Musik wirkt für sich alleine, da braucht man nicht unbedingt das Hintergrundwissen. Man muss sich nur öffnen, bereit sein, ungewohnte Klänge zuzulassen. Das kann nicht jeder, aber du bist erstaunlich offen. Dir hat die Musik doch etwas gegeben, oder nicht?“
„Und ob!“ Sonja lächelt ihn an.
„Na, siehst du. Ich finde das ganz wunderbar. “ Svens Augen strahlen. Seine Lachfältchen strahlen mit. „Du spielst ganz sicher auch ein Instrument, oder?“
„ Leider nicht mehr“, entgegnet Sonja. „Ich hatte als Schülerin Klavierunterricht, aber das ist schon eine Weile her. Jetzt würde ich gerne Gitarre lernen. Das ist besser für den Einsatz in der Schule. Was spielst du für ein Instrument?“
„ Mein Hauptinstrument ist die Violine, aber ich habe auch Klavier studiert.“
„ Und was wirst du damit anfangen, beruflich meine ich, wenn du mit dem Studium fertig bist?“
„E igentlich wollte ich Musiker in einem Orchester werden, aber es ist verdammt schwer, da rein zu kommen.“ Er zögert und reibt mit der Hand gedankenverloren die beschlagene Seitenscheibe frei. „Deshalb habe ich mich vor ein paar Jahren entschlossen, noch Germanistik dazu zu studieren. Jetzt kann ich Lehrer an Gymnasien werden.“
„Ein Kollege also, sieh an.“ Sonjas Herz macht Hüpfer. „Wie lange brauchst du noch?“
„I n zwei Monaten habe ich die letzte Prüfung. Dann bin ich fertig.“
Gerade als Sven zu einer Gegenfrage ansetzen will, schiebt sich ein Kleintransporter des THW in die Mittelgasse neben ihr Fenster.
„D ie Verpflegung kommt!“ Sven richtet sich erfreut im Sitz auf. „Willst du mit aussteigen?“
„Unbedingt “, entscheidet Sonja. Sie muss dringend aufstehen und ihre schmerzenden Glieder strecken.
Zusammen mit Sven verlässt sie den Wagen. S ofort fährt ihr die Kälte durch Mark und Bein. Bestimmt sind es inzwischen fünf Grad unter Null, wenn nicht noch mehr. Wie gut, dass es endlich etwas Warmes gibt! Nur dadurch kann Sonja die feinen Nadelstiche ignorieren, die die Kälte verursacht.
„Ist bei ihnen alles in Ordnung?“, wendet sich ein Mitarbeiter des THW an sie.
Sonja nic kt.
„Im Prinzip schon. Ich brauch nur dringend etwas Warmes.“
Ihr Atem bildet eine weiße Wolke, die Augen tränen vor Kälte. „Ich bin inzwischen durchgefroren bis auf die Knochen.“
Der Mann reicht ihr einen Becher voll mit heißem, duftendem Tee. Sonja nimmt das Getränk dankend in Empfang und hält es lange in den Händen, bevor sie trinkt.
„Sie auch?“, wendet der Mann sich an Sven.
„Ja, gerne.“
„ Haben Sie auch etwas zu essen dabei?“, fragt Sonja.
„Nein, leider nicht“, erwidert der Mann Schulter zuckend.
„Aber nach uns kommt gleich die Gulaschkanone der Bundeswehr.“
„Das ist gut .“
Sonjas Nase beginnt zu laufen.
„Halt bitte mal kurz.“ Ohne langes Zögern drückt sie
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