Die Nacht im Stau (German Edition)
Schade, denkt sie, ist sich aber im gleichen Moment gar nicht sicher wie sie auf so eine intensive Berührung reagieren würde. Die ganze Situation ist ohnehin schon knisternd wie ein Stück Stanniolpapier.
„Soll ich bei dem Lastwagenfahrer da vorne fragen, ob er ein bisschen heißes Wasser machen könnte? “, meint Sven auf einmal und sein Gesicht leuchtet. „Die LKW Fahrer haben normalerweise solche Möglichkeiten.“
„Nei n, nein!“ Svens Besorgnis rührt sie. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“ Sonja unterdrückt ein Gähnen. Dann stellt das Gebläse höher und schiebt ihre Hände unter den Po. Vielleicht werden sie ja so schneller wieder warm. „Wie geht es denn jetzt mit deinem Auto weiter?“
„Ich habe, bevor ich zum ersten Mal zu dir kam, mit dem ADAC telefoniert. Man sagte mir, dass inzwischen auch noch andere Fahrer ohne Benzin liegen geblieben sind. Die gelben Engel werden also demnächst anrücken und helfen.“
Sonja nickt erleichtert.
Mittlerweile geht es auf dreiundzwanzig Uhr zu. Um diese Uhrzeit liegt sie normalerweise schon längst im Bett, denn ohne acht Stunden Schlaf ist sie am nächsten Tag nicht zu gebrauchen. Trotz ihres ständigen Gähnens ist sie jetzt jedoch erstaunlicherweise kein bisschen müde. Ist ja auch verständlich, bei den aufregenden Dingen, die in den letzten Stunden geschehen sind. Trotzdem – es wird sicher noch lange dauern, die Sperrung ist noch längst nicht aufgehoben. Irgendwann muss sie versuchen ein bisschen zu schlafen.
A ber jetzt ganz sicher noch nicht! Jetzt steht erst mal das Gespräch über dieses wunderbare Konzert an. So gut es nur geht, versucht sie die Gedanken, die sie während des Zuhörens hatte, in Erinnerung zu rufen.
Während Sonja Sven ihre Eindrücke schildert, bricht er ein ums andere Mal in Begeisterung aus.
„Das ist super gut, was du alles heraus gehört hast! Der erste Satz ist von Mahler wirklich so angedacht gewesen, wie du es empfunden hast. Darin hat er ein Lied verarbeitet, das heißt ‚Ging’ heut morgen über’s Feld‘. Da kannst du wirklich den Kuckucksruf erkennen und eine Jagdszene heraushören.“
Sonja freut sich. Svens Lob tu t ihr ungemein gut. Sie will ihm imponieren, ein bisschen mithalten können mit ihrem Nebensitzer, der durch seinen Wortschatz und sein Wissen immer wieder so ein beachtliches Bildungsniveau offenbart.
Sie dankt dem Schicksal, das sie beide zusammengeführt hat, das ihr diese wunderbaren Stunden ermöglicht hat. Lang wird diese Notgemeinschaft nicht mehr dauern, das weiß Sonja. Und dann werden sich ihre Wege wieder trennen.
Oder auch nicht. Vielleicht lässt sich das ja ein bisschen steuern.
„Das mit den vier oder fünf Sätzen kann man ganz einfach erklären“, fährt Sven fort. Sonja lauscht seiner tiefen, sonoren Stimme. Es ist wunderschön, wenn er spricht.
„Gustav Mahler hat den 2. Satz, die Blumine, nach der Uraufführung gestrichen. Warum, ist nicht ganz sicher. Man verm utet, dass er diesen Teil später als störend für die Satzfolge empfunden hat.“ Er macht eine kleine Pause, reibt sich über die Wange. Begeisterung schwingt in seiner Stimme, als er nachschiebt: „Norrington hat die Symphonie heute in der Urfassung gespielt, mit der sehr seltenen Blumine. Ein wunderbarer Teil.“
„ Ja“, stimmt Sonja erregt zu, „dieser kurze Satz hat mich ungemein ergriffen. Das ist eine wunderbar zarte Melodie.“
„Mahler nannte sie : Auf der Trompete geblasene Mondscheinserenade über die Ufer des Rheins“, erklärt Sven.
„Wahnsinn, was du alles weißt !“ Sonja ist sprachlos.
„ Na ja, dieser Komponist war mein Schwerpunktgebiet im Studium“. Sven wirkt ein bisschen verlegen. Er denkt kurz nach und geht dann wieder auf Sonjas ursprüngliche Worte ein.
„ Gustav Mahler hat das Stück in fünf Teile aufgeteilt, aber bei den meisten Interpreten sind es jetzt nur noch vier Sätze, weil eben dieser ursprüngliche 2. Satz fehlt. Dadurch verschiebt sich das alles ein wenig. Das Tanzfest auf dem Lande, das du völlig richtig herausgehört hast, kommt im offiziellen 2. Satz vor, war aber beim heutigen Konzert der 3. Teil. Hast du die Melodie im darauf folgenden Satz erkannt?“
Sven pfeift ihr ein Lied vor.
Sonja schaut ihn fasziniert an. Esprit hat dieser Mann, einfach u nglaublich!
Sie kann die Melodie nicht sofort zuordnen.
„Wart mal“, sagt sie. „Das kenn ich eigentlich gut.“ Und nach kurzem Nachdenken: „Ist das nicht ‚Bruder Jakob ‘ , der
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