Die Nacht im Stau (German Edition)
jetzt geschieht etwas, das sie überhaupt nicht steuern kann, dem sie sich nur überlassen kann. Ein emotionaler Aufruhr, ein völliges Durcheinanderwirbeln.
Sonja atmet tief durch. Es hilft alles nichts. Als erstes muss sie jetzt Roberts SMS beantworten. Er wartet sicher und sie will um Gottes Willen nicht, dass er anruft.
Nachdem sie eine Weile über eine mögliche Antwort nachge dacht hat, schreibt sie: ‚Soweit alles OK. Wär schön, wenn endlich eine heiße Suppe käme. Schlaf gut.‘
Kurz und unver fänglich. Damit ist einigermaßen sichergestellt, dass keine weitere SMS mehr kommt. Soll sie ihr Handy ausschalten? Nein, das ist vielleicht ungeschickt, falls er doch noch etwas schreibt. Sie wird es anlassen, einfach so, zur Sicherheit.
Helle Farbwellen e rhellen im Sekundentakt der Himmel. In der dunklen Nacht kann man das gelbe Blinklicht des Räumfahrzeuges schon lange sehen, bevor es in der Nähe ist.
Hoffentlich hat Sven jemanden gefunden, der ihm hilft, sein Auto weg zu schieben.
D ie ganze Zeit über will sie ihn schon fragen, wie er die Sache mit dem Sprit eigentlich lösen wird. Sie in seiner Situation hätte nur eine einzige Idee: den ADAC um Hilfe zu bitten. Wer von den anderen Autofahrern besitzt denn heutzutage noch einen gefüllten Reservekanister? Niemand. Vermutlich bleibt Sven gar nichts anderes übrig als diesen Hilferuf zu tätigen.
Sie hätte gar zu gerne gesehen, was Sven jetzt gerade macht. Aber leider ist ihr Auto innen völlig beschlagen, und zum Aussteigen hat sie absolut keine Lust. Seitdem die Tür geöffnet wurde und ein Schwung kalter Luft ins Wageninnere eingedrungen ist, friert Sonja. Sie holt ihren Mantel nach vorne und zieht ihn an, doch die Kälte sitzt ihr inzwischen in den Knochen. Die Nase kitzelt, ab und zu muss sie niesen. Wenn sie sich nur keine Erkältung einfängt!
U m wenigstens ein bisschen zu sehen, wischt sie die Seitenfester frei, doch bis an die hinteren Fenster und die Rückscheibe reicht ihr Arm nicht.
Trotz Mantel zittert sie. Vermutlich kommt das auch daher, dass sie seit Stunden nichts Richtiges mehr gegessen hat. Die Thermoskanne mit Tee fällt ihr ein und sie schenkt sich einen letzten Becher ein, doch das Getränk ist inzwischen nur noch lauwarm.
Im Außenspiegel sieht sie, dass die Wagen, die hinter ihr auf der Überholspur stehen, einer nach dem anderen nach links in Richtung Leitplanke rollen. Wenn ihr Vordermann ein wenig nach vorne rückt, kann sie ihr Fahrzeug ebenfalls zur Seite ziehen. Sie blinkt ihn kurz per Lichthupe an und tatsächlich: er reagiert. Im rechten Außenspiegel sieht sie jetzt auch Sven, der zusammen mit einem anderen Mann sein Fahrzeug an den rechten Seitenrand schiebt. Ihr armer Mitfahrer wird vermutlich völlig ausgekühlt zurückkommen.
Meter um Meter nähert sich das große Räumfahrzeug. Schon kann man den Lärm hören, den die Schaufel beim Kratzen auf dem Boden macht.
Im R ückspiegel sieht sie ein weiteres Fahrzeug mit Blinklicht, das im nun frei geschaffenen Mittelgang allmählich näher kommt, vermutlich ein Versorgungsfahrzeug.
Kurz darauf öffnet Sven die Beifahrertüre und schlüpft auf den Sitz neben sie.
„Nimmst du mich Hal berfrorenen wieder auf?“, fragt er und schüttelt sich vor Kälte.
„N ur, wenn du die Vitamine aus deiner Tüte endlich rausrückst“, erwidert sie.
„A ch, du lieber Himmel! Die haben wir ganz vergessen. Du hättest dich ruhig bedienen dürfen. Da brauchst du doch nicht zu fragen!“ Er zieht den Sack Mandarinen aus der Tüte, reibt sich einen Moment lang seine kalten Hände und beginnt dann langsam, mit noch steifen Fingern, eine Frucht zu schälen. Vorsichtig deponiert er die Schalen auf dem Boden.
„Hier, ein klitzekleines erstes Dankeschön“, sagt er und reicht ihr die ausgebreiteten Früchte auf seiner Hand. „Es wird jetzt auch nicht mehr lange dauern, bis wir etwas Warmes zu essen bekommen“, fährt er fort. „Die Fahrzeuge des THW, ASB und die Johanniter sind im Einsatz. Das hat mir der Mann erzählt, der mir geholfen hat. Er steht mit einem Kollegen in telefonischer Verbindung, der weiter hinten im Stau sitzt. Die Leute dort sind schon mit Tee, Decken und Wasser versorgt.“
„Es wird auch höchste Zeit. Ich komme aus dem Zittern gar nicht mehr raus.“ Sie schüttelt sich vor Kälte.
Sven schaut sie nachdenklich an.
„Wie kann ich dir denn helfen? Meine Hände sind zu kalt, sonst könnte ich deine ein wenig warm reiben. “
Sonja lächelt ihn an.
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