Die Nacht im Stau (German Edition)
Sven ihren Becher in die Hand, sucht in der Manteltasche nach einem Papiertaschentuch und schnäuzt sich.
Zum ersten Mal stehen sie beide nebeneinander und ihr fällt auf, wie groß Sven ist. Mindestens zwanzig Zentimeter größer als sie. Ein stattlicher Mann.
Andere Autofahrer gesellen sich zu ihnen und man kommt ins Gespräch. Der eine weiß angeblich, dass der Lastwagen, der die Brücke beschädigt hat, inzwischen abgeschleppt wurde. Ein anderer mutmaßt, der LKW habe Diesel geladen. Das sei ausgelaufen und man müsse das Erdreich abgraben.
„Das kann noch Stunden dauern“, unkt er.
Sven und Sonja beobachten, wie der Fahrer des THW Fahrzeugs an die Scheibe des Autos klopft, das neben Sonjas Wagen steht. Der alte Herr scheint fest zu schlafen. Er ist der einzige, der bisher nicht ausgestiegen ist. Schließlich öffnet der Blaubekleidete die Türe des Fahrzeugs, beugt sich hinein und als er nach kurzem Gespräch seinen Kollegen zu sich ruft, und dieser sein Handy zückt, ist klar, dass es Probleme gibt. Sonja spitzt ihre Ohren und glaubt, etwas in Richtung Atemprobleme zu verstehen und dass ein Sanka angefordert wird.
Sie macht sich Vorwürfe. „Vielleicht hätten wir uns mehr um den alten Mann kümmern sollen.“
„So etwas kann ma n ja nicht ahnen“, erwidert Sven und zuckt die Schultern. „Ich habe jedes Mal, wenn ich vorbei ging, zu ihm hinein geschaut. Es sah immer so aus, als ob er tief und fest schläft. Dummerweise habe ich mir keine weiteren Gedanken gemacht.“
Sven und Sonja stehen dicht nebene inander, jeder seinen Becher mit warmen Tee umklammert, und beobachten das Geschehen. Während der Beifahrer des THW Fahrzeugs sich weiterhin um den alten Mann kümmert, geht der Fahrer zu seinem Fahrzeug zurück und beginnt Decken an die Umstehenden zu verteilen. Als einer der ersten nimmt Sven zwei entgegen.
„ Kann ich bitte noch eine Tasse Tee bekommen?“ Sonja kommt aus dem Frieren nicht heraus.
„Aber, klar doch.“ Der Blaubekleidete greift nach der Thermoskanne und schenkt ihr nach.
„Tut mir leid, aber ich muss wieder ins Aut o zurück“, wendet sie sich an Sven. „Ich hab Eisfüße.“
„Ich komme mit.“ Fürsorglich breitet er eine Decke aus und legt sie ihr über die Schultern.
Was für eine nette Geste, denkt Sonja. Sie bemüht sich, sein Verhalten nicht überzuinterpretieren. Auf keinen Fall will sie sich wieder in eine Idee versteigen, in ein Hirngespinst, so wie damals, bei ihrem Kommilitonen. Vermutlich ist Sven einfach ein gutmütiger Mensch und würde das mit jedem anderen auch machen.
Im Vorbeigehen wirft sie einen Blick auf das Fahrzeug nebenan. Der zweite THW Mann tätschelt dem Fahrer die Wange und spricht mit ihm.
„ Was könnte mit ihm los sein?“, erkundigt sich Sonja bei Sven, als sie wieder zitternd vor Kälte im Fahrzeug nebeneinander sitzen.
„ Im schlimmsten Fall ist das eine Kohlendioxidvergiftung, eine Form von Sauerstoffmangel, weil er zu lange im geschlossenen Auto saß. Andererseits hat jedes Auto eigentlich genügend Ritzen, durch die Luft von außen herein kommt. Und er hat doch sicher das Heizungsgebläse angehabt. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch etwas ganz anderes.“
Sonja dreht das Gebläse ihres Autos auf Höchststufe und macht Zehengymnastik im geschlossenen Schuh.
Schon bald hören sie ein Martinshorn. Blaues Licht erhellt den Himmel, als das Ambulanzfahrzeug sich nähert. Wie gut, dass die Mittelgasse inzwischen geräumt ist. Trotzdem berichtet Sven, dass er im Außenspiegel sieht, wie das Fahrzeug immer wieder anhalten muss, weil Menschen im Weg stehen und nicht schnell genug zur Seite gehen.
Auf ihrer Höhe angelangt bleibt der Sanka stehen. Zwei Sanitäter springen heraus und eilen zum Auto des Nachbarn. Mit einem inzwischen triefnassen Lappen versucht Sven zum wiederholten Mal, die Seitenscheibe trocken zu reiben. Soweit sie beide sehen können, ist der Fahrer ansprechbar. Trotzdem wird er auf eine Bahre gelegt und ins Ambulanzfahrzeug gebracht.
Nachdem im Augenblick nichts weiter zu sehen ist, mummelt Sonja sich wieder in ihre Decken. Die eine hat sie um die Nieren geschlungen, die andere hat ihr Sven gleich nach dem Einsteigen über die Füße gelegt. Die Sirene der Ambulanz ist ausgeschaltet, doch das sich drehende Blaulicht wirft gespenstische Reflexionen auf die verschneite Landschaft.
Hoffe ntlich ist es nichts Schlimmes, denkt sie. Sie hat einmal gehört, dass man an der Zeitdauer, die vor der Weiterfahrt des
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