Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
versuchte er, Bedauern über sie zu empfinden … konnte es aber nicht. Er war zu lange nur mit hypnotisierten Huren und bewusstlosen Säuferinnen zusammen gewesen, für die er nicht einmal ein Traum war. Es war so lange her, dass er zuletzt seinen eigenen Namen von den Lippen eines anderen Menschen gehört hatte, dass er ihn beinahe selbst nicht mehr kannte. Er hatte Vorsicht mit Trägheit verwechselt, und Furcht mit Umsicht. Es war Zeit, das zu ändern. Zeit zu handeln. In einer der nächsten Nächte.
Alles, das aufsteigt
She says one day soon
you and I will merge
Everything that rises must converge
Sie sagt, dass du und ich eines baldigen Tages
miteinander verschmelzen werden
Alles, was aufsteigt, muss sich zusammenfinden.
Aus dem Tagebuch von Ambrose Delaney Dale
25. September 1898
Es ist geglückt – mein Plan, den ich den ganzen Sommer über sorgfältig in die Wege geleitet habe, ist endlich aufgegangen! Das Opfer ist mir zwar entwischt, aber ich kenne jetzt seinen Namen und sein Gesicht. Jetzt kann er mir nicht mehr entkommen.
Sie alle kamen, all jene, die aus gutem Grund verdächtig waren. Der Trick, ein Abendessen für die Gesellschaft zu geben, um unsere städtischen Geschäftsbeziehungen auszuweiten, schien sie alle getäuscht zu haben.
Am Anfang war es zum Wahnsinnigwerden. Sie bestanden allesamt jede einzelne Prüfung, die ich mir ausgedacht hatte. Alle traten ein, ohne dazu explizit eingeladen worden zu sein – aber vielleicht genügen schriftliche Einladungen. Alle erschienen in den Spiegeln, die ich sorgfältig an einer Anzahl von Stellen in der Halle und im Speisesalon platziert hatte. Einige kamen mit ihren Frauen, zu aufwendig gekleidet und so respektabel und gewöhnlich, wie es Frauen von Geschäftsleuten häufig sind. Alle aßen das Geflügel, trotz der starken Dosis von Knoblauch in der Sauce. Keiner versuchte, sich vor dem Kruzifix wegzuducken, das ich auf den Kaminsims gestellt hatte, oder sich vor den Kreuzen zu verstecken, die in das Tischtuch eingewebt waren. Sie schienen mir eine durchschnittliche Auswahl ausländischer Geschäftsleute, einige von ihnen wichtigtuerisch und laut, einige ruhig und bedächtig, einige charmant und klug.
Während der Abend seinen Lauf nahm, hatte ich schon fast verzweifelt aufgegeben und überlegte gerade, ob ich Collins wegschicken sollte, der – als Bediensteter getarnt – im Flur Wache hielt, zusammen mit den Männern, die er engagiert hatte. Ich verließ den Salon und ging in mein Arbeitszimmer, darüber im Klaren, dass Collins mir folgen würde, um seine Anweisungen entgegenzunehmen.
Die Tür stand offen, als ich ankam, und ich wusste sofort, dass ich nicht alleine war. Ich hatte natürlich nicht etwa den Zutritt zu diesem Raum verboten, und deshalb brannte ein Feuer im Kamin und verbreitete ein schwaches, flackerndes Licht, das mich den Mann sehen ließ, der im Schatten an der der Tür abgewandten Wand stand. Er betrachtete die Bücherregale dort. Die Zeit reichte mir gerade noch, um zu erkennen, dass jene Regale meine Sammlung okkulter Werke enthielten – und dass das Feuer so weit heruntergebrannt war, dass es wohl kaum genügend Licht verbreitete, um einen normalen Menschen die Titel dort lesen zu lassen – als er sich umdrehte.
Als seine Augen rot aufflammten, wusste ich, dass er derjenige war, den ich gesucht hatte. Kaum dass ich das erkannt hatte, war es mir klar wie der helllichte Tag, und ich fragte mich, wie ich jenes schmale Gesicht, jene fahlen Augen je hatte ansehen können, ohne es sofort zu erkennen.
Aber so wie ich ihn kannte – kannte er mich!
Ich konnte aus dem plötzlichen Leuchten in seinen Augen erkennen, dass ihm klar war, dass ich über die Wahrheit Bescheid wusste. Einen Augenblick lang starrten wir einander an, dann setzte er sich in Bewegung, warf sich schneller auf mich, als ich für möglich gehalten hätte.
Ein donnerndes Dröhnen hallte in meinen Ohren, und der Geruch von Kordit erfüllte die Luft. Der nach vorne gerichtete Schwung der Kreatur kehrte sich um, und er taumelte nach hinten, sich die Brust haltend. Ich sah, wie seine weiße Hemdbrust anfing, sich zu röten.
Ich hörte Collins hinter mir eine Verwünschung ausstoßen und fürchtete einen Augenblick lang, dass wir uns beide getäuscht hatten. Dass da vor uns ein unschuldiger Mann starb.
Dann wirbelte der Vampir herum und stürzte sich aufs Fenster, bahnte sich seinen Weg durch das splitternde Glas nach draußen in den
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