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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Vorsicht, Unsicherheit und von Faszination, die er schon vor so langer Zeit auszunutzen gelernt hatte.
    »Ich habe, wie Sie ja sehen können, Muße. Ich habe sonst nichts vor, und Rosedale ist mir als Ziel ebenso genehm wie jedes andere. Aber Sie haben ganz Recht, dass Sie sich nicht leichtfertig von einem Fremden begleiten lassen. Gestatten Sie mir also, dass ich mich vorstelle. Ich bin Dimitri Rossokow.« Es tat gut, seinen Namen wieder einmal auszusprechen. Selbst die affektierte Verbeugung, die er daran anschloss, fühlte sich gut an, ein Augenblick heiterer Frivolität, den er sich schon so lange versagt hatte.
    Ihr Kichern signalisierte ihre Kapitulation, ihre Unfähigkeit, jemanden, der mit so törichter Galanterie zu ihr sprach, längere Zeit zu fürchten. »Ich bin Eleonora Holmes. Aber da die Großtante, nach der man mich benannt hat, bereits tot ist und nichts mehr davon mitbekommt, nenne ich mich üblicherweise Ellie.«
    Sie hoben die Tüten auf, jeder von ihnen zwei, und Ellie führte ihn die Yonge Street hinauf auf das teuerste Viertel der Stadt zu. Das war es auch schon zu seiner Zeit gewesen, und er erinnerte sich daran, wie die Villen dort vor den Bäumen und der Dunkelheit wie Juwelen geleuchtet hatten. Er erinnerte sich an die langen Reihen von Kutschen, die dort aufgefahren waren, um ihre makellos gekleidete Ladung vor den Türen der Elite der Stadt aussteigen zu lassen.
    Im Licht der Straßenlaternen konnte er sehen, dass sie jünger war, als er geglaubt hatte, höchstens zwanzig. Ihr langes, kastanienfarbenes Haar umrahmte ein ovales Gesicht mit einem breiten, vollen Mund und schmalen braunen Augen. Ihre Gesichtszüge waren auf eine fast anonyme Art angenehm, aber das Leben, das beim Reden in ihr Gesicht trat, faszinierte ihn. Sie unterstrich, was sie sagte, mit lebhafter Mimik oder einem kurzen Lächeln, und ihre Hände, die die Tüten trugen, hoben sich, als wäre sie gewohnt, mit ihnen zu gestikulieren, und selbst die schweren Tüten konnten sie nicht davon abhalten. Sie trug schwarze lange Hosen und ein weites, ärmelloses Oberteil, das am Hals von einer glitzernden Brosche zusammengehalten wurde.
    Sie war nervös und achtete sorgsam darauf, den Abstand zwischen ihnen zu wahren. Sie redete, um ihre Nervosität zu verbergen. In schneller Folge fand er heraus, dass ihr Vater Rechtsanwalt, ihre Mutter Verwaltungsangestellte in einem Krankenhaus und ihr älterer Bruder Aktienmakler war. Sie selbst besuchte seit zwei Jahren die Universität, und ihre Zukunft schien für den Rest der Familie Holmes von zentraler Bedeutung zu sein. »Dad wäre natürlich entzückt, wenn ich den Anwaltsberuf ergreifen würde, Mom würde mich als Ärztin vorziehen, und Paul wäre schon froh, wenn ich ihm auf seiner alten Alma Mater nicht zu viel Schande mache.«
    »Und was wollen sie selbst?«
    »Das weiß ich noch nicht. Ich arbeite gern in der Bibliothek, auch wenn meine Eltern jedes Mal zusammenzucken, wenn sie hören, wie schlecht die bezahlen. Ich habe mir an der Universität Biologie als Hauptfach ausgesucht, und das macht mir viel Spaß. Das ist mein Problem. Ich finde alles interessant. Manchmal wünsche ich mir, ich würde zu den Leuten gehören, die schon von ihrem fünften Lebensjahr an wissen, dass sie einmal Neurochirurg werden wollen.«
    »Wissbegierde ist ein seltener Wesenszug. Sie sollten ihn schätzen«, meinte er und fing ihren vorsichtigen Blick auf.
    »Und was ist mit Ihnen? Was wollten Sie werden, als Sie jung waren?«
    »Nicht das, was mein Vater sich wünschte.« Sie grinste und bog um eine Ecke, führte ihn von der Yonge Street weg in eine Seitenstraße, ohne allem Anschein nach Notiz davon zu nehmen.
    »Und was hätte er sich gewünscht?«
    »Einen braven Sohn. Einer, der zu Hause bleibt und Söhne bekommt, die den Namen weitergeben können.«
    »Und was haben Sie stattdessen getan?«
    »Ich bin weggegangen. Ich bin gereist, habe studiert und …« Er hielt abrupt inne, erinnerte sich plötzlich daran, dass dies nicht Ardeth war und sie sich nicht in der Irrenanstalt befanden, wo alle Lügen bedeutungslos waren. Er bewegte sich auf das reiche Herz der Stadt zu, als Landstreicher gekleidet, in Begleitung eines Kindes, dessen Blut ihn ebenso anzog wie ihr Charme. Es war Wahnsinn. Dies war keine halb benebelte Trinkerin, keine vom Rauschgift zerfressene Prostituierte. Wenn er sich jetzt einen Schnitzer leistete, dann konnte er ebenso gut eine dieser seltsamen grellen Neontafeln über seinem

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