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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Kopf anbringen und darauf warten, dass Havendale ihn erwischte. Und er hatte ihr seinen richtigen Namen verraten.
    Einen Augenblick lang war ihm danach, einfach die Tüten fallen zu lassen und zu fliehen, aber der Hunger nach Blut stach schmerzhaft in seinen Eingeweiden, der Hunger nach ihrer sorglosen, gleichgültigen Jugend noch stärker. Die Wildheit, der Rausch seiner finsteren Macht war viel älter als die Vorsicht, zu der er sich seit hundert Jahren geschult hatte. Ardeth hast du deshalb getadelt, dachte er bedrückt, aber nicht einmal in dir selbst kannst du es bezwingen.
    »Mr. Rossokow?« Ihre Stimme klang zögernd, schwankte zwischen Sympathie und Furcht.
    »Es war ein anderes Land und eine andere Zeit«, endete er schließlich und brachte ein schwaches Lächeln zustande.
    »Was ist mit Ihnen passiert?«
    »Dass das aus mir geworden ist, was Sie heute vor sich sehen? Das ist eine lange Geschichte und keine sonderlich interessante, fürchte ich. Warum bereiten Sie nicht einem alten Mann eine Freude, indem Sie ihm erzählen, was Sie sonst noch an der Welt fasziniert.«
    Ihre Lippen kräuselten sich einen Augenblick lang, auf halbem Weg zwischen einem Schmollen und offener Ablehnung, dann glätteten sich ihre Züge wieder. »Ich glaube nicht, dass Sie auch nur annähernd so alt sind, wie Sie tun. Und im Augenblick sind Sie das Interessanteste, was es weit und breit gibt. Wenn Sie mir nichts von sich erzählen wollen, werde ich es einfach erfinden.«
    »Nur zu.«
    »Also schön.« Sie musterte ihn einen Augenblick lang theatralisch mit zusammengekniffenen Augen und bemerkte dabei nicht einmal, dass ein Mann, der seinen Hund quer über die Straße führte, sie eine Weile neugierig betrachtete. »Ich würde sagen, Sie kommen irgendwo aus Europa. Ihre Familie war wahrscheinlich reich oder adelig. Das schließe ich daraus, dass Sie den Familiennamen weitertragen sollten. Als Sie zu Hause weggingen, hat Ihr Vater Sie enterbt.« So weit stimmt alles, musste Rossokow zugeben, aber dann erdachte sie tragische geheime Liebschaften und Intrigen spinnende Brüder, die sicherstellen wollten, dass er enterbt blieb. »Und da sind Sie jetzt, stecken in Toronto fest und lesen die Zeitungen, um irgendeinen Hinweis darauf zu finden, wo sich Ihre lang verlorene große Liebe aufhält. Wie war ich?«
    »Vielleicht sollten Sie es mit Schriftstellerei versuchen, statt Biologin zu werden«, schlug er lachend vor.
    »Das würde Dad freuen. Schriftsteller verdienen noch weniger als Bibliothekarinnen.« Sie blieb plötzlich an einer kurzen Einfahrt stehen. »Wir sind da.« Ihre Stimme klang verwirrt und unsicher.
    Rossokow betrachtete das Haus eine Weile, suchte nach von Licht gesäumten Fenstern oder dem Schatten eines Gesichts, das sie beobachtete. Aber da war außer einer Lampe über dem Eingang nichts. Hinter dem Schleier von Zedernhecken, welche die vordere Rasenfläche säumten, konnte er aus dem Haus zur Rechten leise Geräusche hören, aber das zur Linken lag völlig still da. »Meine Eltern sind noch nicht zu Hause. Sie sollten aber bald kommen.« Die Worte sprudelten schnell aus ihr heraus, so als könne ihr Tempo die Lüge verdecken.
    »Dann werde ich Sie jetzt verlassen«, sagte er, setzte aber die Tüten nicht ab.
    »Haben Sie Hunger? Durst? Ich könnte …«
    »Ich habe keinen Hunger.« Seine eigene Lüge kam viel glatter heraus.
    »Ich würde Sie hereinbitten, aber …«
    »Ich verstehe. Ich könnte alles Mögliche sein. Ich könnte gefährlich sein.« Sie schwankte noch einen Augenblick lang, hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugierde, zwischen Tausenden von gehörten Warnungen und ihrem Glauben an ihre eigene Unverletzbarkeit.
    »Wenn Sie ein Dieb sind, ist es egal. Alles ist versichert. Und … ich glaube nicht, dass Sie mir etwas zuleide tun wollen. Oder wollen Sie das?« Sie sah ihn an, und ihre dunklen Augen waren ganz groß, ihre Gesichtszüge zum ersten Mal unbewegt und offen.
    »Nein, Eleonora Holmes, ich will Ihnen nichts zuleide tun.« Das zumindest war die Wahrheit.
    Also öffnete sie die Tür und ließ ihn ein.
    Im Haus war es kälter als draußen, gekühlt von modernen Maschinen und dem kahlen Weiß der Wände. Überall, wo Licht hinfiel, schimmerte Metall und Leder. Schwarze Möbel und Chromregale standen in eisiger Eleganz vor den Wänden und kontrastierten mit großen Gemälden von gletscherhaftem Blau. Ellie sah sich in dem offenen Wohnzimmer um und schnüffelte. »Besser nicht«, entschied sie.

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