Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
schweren Tritt des Bären nicht mehr hören konnte. Als Sterblicher wäre es ihm gar nicht angenehm gewesen, ihm zu begegnen.
»Ja. Ich weiß schon, es hätte schlimmer sein können. Als wir die Blutung gestillt hatten und ich nähen konnte, war ja alles in Ordnung. Ich bin bloß …« Die Frau hielt inne, zuckte die Achseln. »Ich bin bloß die Nachtschicht noch nicht gewöhnt. Mein Körper meint immer, ich sollte schlafen.«
»Du wirst dich schon daran gewöhnen. Die heutige Nacht war ungewöhnlich. Das Schlimmste, was man hier bekommt, sind in der Regel Beinbrüche vom Skilaufen im Winter und Aufschürfungen im Sommer, wenn die Leute vom Fahrrad oder vom Motorrad stürzen. Nach deinem Einsatz in der Stadt wird das richtig langweilig sein.«
»Mit ein wenig Langeweile komme ich klar, das kannst du mir glauben.«
Der Mann lachte und sah auf seine Uhr. »Also, ich muss jetzt meine Runde machen. Kommst du mit rein?«
»Nein. Ich bleibe hier noch eine Weile sitzen. Vielleicht tut mir die Nachtluft gut und verschafft mir einen klaren Kopf.«
Nachdem der Mann in das Gebäude verschwunden war, setzte Leigh sich auf den Picknicktisch am äußeren Rand der Veranda und stellte die Füße auf die Bank. Kurz darauf sah sie sich gespielt gleichgültig um und griff dann in die Tasche. Rossokow sah, wie ein Streichholz in ihrer Hand aufflammte und sich dann in das schwache Glühen einer Zigarettenspitze verwandelte, die wie ein ferner Stern leuchtete. Beinahe unwillkürlich ertappte er sich dabei, wie er sie studierte.
Ihr Haar war braun und hinten ziemlich schlampig zu einem Knoten zusammengebunden. Ihr Gesicht war voll knochiger Kanten, was ihr einen Ausdruck der Stärke verlieh, den die Müdigkeit gerade milderte. Ihre hockende Haltung verbarg einen Körper, der so wie ihr Gesicht war, dünn und stark. Sie zog lange und tief an der Zigarette und blies dann den Rauch dem wolkenverhüllten Mond entgegen.
Das Blut musste an ihrer Krankenhauskleidung kleben, vermutete Rossokow. Oder die beständige Nähe hatte es in ihre Haut eindringen lassen und ihr ein Parfüm verliehen, das nur die wahrnehmen konnten, für die es das Leben selbst bedeutete.
Du solltest jetzt gehen, sagte er sich. Die Nacht wartet. Jenseits der Lichter der Stadt gibt es Elche. Die reichen aus.
Er log, so wie Ardeth gelogen hatte. Er erinnerte sich an ihre zornigen Vorwürfe und die Antworten, die er darauf nicht besaß. Er wusste nicht, was er mehr hasste, ihre Fragen oder seine eigene Unschlüssigkeit. Sie schien vergessen zu haben, dass sie das Kind dieses Jahrhunderts war, nicht er. Sie erwartete von ihm Lösungen, verließ sich darauf, als besäße sie kein eigenes Wissen, als hätte sie bequemerweise den Verstand und die Fähigkeiten, die sie besaß, in den Ruhezustand versetzt.
Vielleicht sollte er handeln, vielleicht würde das diesem Gefühl der Trägheit ein Ende bereiten, das ihn überkommen hatte. Er würde eine Entscheidung treffen, so wie Ardeth ihn gedrängt hatte. Wenn es nicht die Entscheidung war, die sie erwartet hatte … nun, dann war das wohl kaum seine Schuld.
Es erforderte keine Ewigkeit, um die meisten Eide zu brechen. Besonders diejenigen, die nie ausgesprochen worden waren.
Er trat einen Schritt zurück und lehnte sich an den Baumstamm, der da auf ihn wartete, und schickte sein Bewusstsein auf die Reise.
Leigh senkte den Kopf, legte ihn etwas zur Seite. Langsam faltete sich ihr Körper auseinander, glitt vom Tisch und bewegte sich quer über die Terrasse. Die Zigarette fiel ihr vergessen aus der Hand. Rossokow sah, wie ihr Mund sich öffnete und sich dann über den Worten, die sie hatte sprechen wollen, wieder schloss.
Das Gebüsch raschelte rings um sie herum. Zweige und Äste knackten unter ihren Füßen. Als sie ihn sah, weiteten sich ihre Augen. Er sah die Angst darin, aber sein Blick bezwang sie, lullte sie ein in einem grauen Nebel. Sie trat an ihm vorbei und blieb am Zaun stehen.
Er war ihr nun so nah, dass die Hitze ihres eigenen Blutes die Witterung des anderen Blutes, die ihn angezogen hatte, übertönte. Er legte die Hände auf ihre Schultern und spürte, wie sie sich verspannten und zu zittern begannen.
»Wer sind Sie?«, flüsterte sie mit verträumter Stimme.
»Niemand. Ein Traum. Ein Alptraum.«
»Ich muss gehen …«
»Noch nicht.« Eine Hand verfing sich in ihrem Haarknoten, um ihren Kopf nach hinten und zur Seite zu ziehen. Die andere glitt über ihren Körper, ihre Brüste, hielt die Frau an der
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