Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
zusammen und genossen die wenigen nächtlichen Vergnügungen der Stadt und verschliefen den Tag eng umschlungen … aber der Schaden war angerichtet.
Mit Jean-Pierre war es nie so gewesen, dem einzigen anderen Vampir, den er gekannt hatte, vor mehr als hundert Jahren in Frankreich. Aber Jean-Pierre war kein Kind seines Blutes und nie sein Liebhaber gewesen. Sie konnten von den Schönheiten von Paris trinken, ohne dass auch nur der Schatten der Eifersucht auf ihr Vergnügen fiel. Kein Sterblicher konnte an dem rühren, was sie miteinander teilten.
Es gab noch einen Vampir, erinnerte er sich. Jene kalte, schöne Frau, die sich im Winter 1459 irgendwie zu seiner tölpelhaften, schwarzen Kunst hingezogen gefühlt hatte. Aber sie war zwei Tage später den wahren Tod gestorben – ein Opfer des Pfahls und des Schwerts, von der Hand eines Priesters, in dessen Ohren Rossokows Worte hallten, die sie verraten hatten. Das war seine bittere Rache, entweder der letzte Akt eines verzweifelten Sterblichen oder der erste eines unmenschlichen Ungeheuers – er hatte für sich nie entscheiden können, was es nun gewesen war. Aber was auch immer es gewesen war, für ihn hatte es bedeutet, dass er nie erlebt hatte, wie es zwischen Schöpfer und Geschöpf sein sollte, zwischen männlichem Vampir und weiblichem.
Mit Ardeth war alles anders. Mit ihr war da ein solch wirres Geflecht von Verpflichtung und Begierde, von Liebe und Angst, dass weder seine Vernunft noch seine Erfahrung es entwirren konnten. Wenn die Vernunft versagt, dachte er bedrückt, dann verlege auch ich mich auf Rationalisierungen, so wie jeder andere gewöhnliche, sterbliche Mensch.
Rossokow seufzte und hob den Kopf vom Teleskop. Es hatte keinen Sinn, heute Nacht länger in die Sterne zu blicken. Sein Geist hing an den Dingen der Erde fest und würde die Sterne nicht sehen. Das Wissen, dass das Licht, das seine Augen erreichte, Millionen Jahre alt war, erzeugte in ihm gewöhnlich ein Gefühl seltsamer Jugend – aber heute erwuchs dabei in ihm nur ein Gefühl der Einsamkeit.
Er kurbelte das Dach des Schuppens zu, schloss die Türen hinter sich und ging weg. Es war schon lange nach Mitternacht, und er ließ sich von den ersten Regungen des Hungers durch die stillen Straßen lenken zu den verlassenen Pfaden, die sich am Fluss entlangschlängelten. In den Wäldern außerhalb der Stadt würde es Elchblut geben, um die Bedürfnisse seines Körpers zu stillen, und die dunkle Reglosigkeit, die vielleicht eine Antwort auf die seines Geistes lieferte.
Dann trug der Wind ihm die Witterung von Blut zu. Sie war so schwach, dass kein Sterblicher sie wahrgenommen hätte, aber in seinen Sinnen explodierte sie förmlich.
Seine Füße verließen den Weg und zogen ihn zwischen den Bäumen auf das Licht zu, das durch den schützenden Schirm aus Fichten und Büschen leuchtete. Da war ein Drahtzaun zwischen den Bäumen, aber das Vorhängeschloss am Tor zersprang in seiner Hand, ehe er auch nur nachdenken konnte, was er hier tat, und warum. Nur ein Blick, versprach er sich. Nur um sicherzugehen, dass niemand verblutet …
Durch die Äste sah er zwei Gestalten auf einer dunklen Terrasse. Der weiße Mantel, den eine der beiden Gestalten trug, lenkte sein Bewusstsein auf das Neon-H über dem Gebäude. Es war das Krankenhaus der kleinen Stadt. Das erklärte also die Blutwitterung. Er wollte schon umkehren, aber dann sprach eine der Gestalten, und die Stimme ließ ihn stehen bleiben.
»Denk dir nichts, Leigh, er wird durchkommen.« Der weiße Mantel wurde zu einem Mann in mittleren Jahren mit schütterem Haar. »Ist das dein erster Bärenangriff?«
Rossokow dachte an den Bären, dem er eines Nachts, als er gejagt hatte, begegnet war. Sie hatten einander auf dem schmalen Pfad angesehen, und Rossokow hatte den schweren Schlag seines Herzens gefühlt, den üppigen Geruch von feuchtem Fell und das leise Schnüffeln seines Atems. Kleine Augen funkelten einen Moment lang, als der Bär den Kopf hob. Seine Vorderpfoten lösten sich vom Boden. Keine Beute hier, flüsterte Rossokows Bewusstsein ihm zu, als das riesige Tier wieder auf alle viere ging. Und auch keine Konkurrenz. Er trat höflich aus dem Weg, und gleich darauf trottete der Bär vorbei, sah ihn mit argwöhnischer Verachtung an. Er war nicht sicher, ob den Bären sein Wille, mit dem er auf das Tier zielte, oder dessen Desinteresse weitergehen ließ, aber Rossokow fuhr jedenfalls fort, seine stumme Botschaft auszusenden, bis er den
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