Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
wir könnten wählen, was wir sein wollen.«
»Dann habe ich mich eben getäuscht. Ich kann mich auch täuschen, wie du mir neulich nachts ja mit großem Vergnügen klargemacht hast«, fauchte er sie an, und dann legten sich seine Hände über ihre Finger und zogen sie weg. »Als ich sagte, dass wir Einzelgänger sind, war das vielleicht das Einzige, das nicht gelogen war.«
Ardeth versetzte es einen Stich. Sie erinnerte sich deutlich an jene Worte, als er sie damals stehengelassen hatte, sie alleine der Nacht und ihrem neuen Hunger preisgegeben hatte. Zu ihrem eigenen Nutzen, hatte er gesagt. Ganz gleich, was für Gründe er auch gehabt hatte. Er hatte sie verlassen, damit sie sich selbst mit ihrem Überleben auseinandersetzte. Und als sie schließlich in einer ganz neuen Persönlichkeit – einer, die verführerisch und geheimnisvoll die Bars der Queen Street heimsuchte – den Weg dazu gefunden hatte, war er zurückgekommen und hatte ihr alles wieder genommen. Er hatte ihren Verstand und ihr Gewissen wieder in ihr geweckt, die sie vorher in brutaler, rücksichtsloser Dunkelheit ertränkt hatte.
Nicht noch einmal, gelobte sie sich. Diesmal wirst du mich nicht einfach stehenlassen.
Sie ließ ihn los, zog die Hände zurück. »Vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist das das einzig Wahre, was du mir je gesagt hast. Und jetzt kannst du ja sehen, ob es stimmt.«
Sie ging ins Schlafzimmer, holte ihren Rucksack und fing an, ihre bescheidenen Habseligkeiten hineinzustopfen. »Was machst du?«, fragte er in der Tür.
»Ich gehe weg.«
»Wo meinst du denn, dass du hingehen kannst?«
»Ist das wichtig? Du vergisst, dass ich damals in Toronto sehr gut ohne dich zurechtgekommen bin.« Bei ihrer Suche in den Schubladen stieß sie auf ihren Geldvorrat – sie ließ ihm die Hälfte da, so wie er das in der Nacht ihrer ersten Trennung für sie getan hatte.
»Du brauchst nicht zu gehen.« Zum ersten Mal hörte sie etwas anderes als eisigen Zorn in seiner Stimme. Sie hielt inne, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verachtung über die eigene Unfähigkeit, auch den schwächsten Andeutungen eines Auftauens seiner Kälte zu widerstehen. »Nimm dir deinen Kletterer. Tu, was du willst. Hier gibt es genug für uns beide.«
Einen Augenblick lang versuchte sie, es sich auszumalen. Versuchte, sich das Leben als Vampir auszumalen, ein Leben, in dem die Menschen im Park ihre Opfer waren statt seine Elche. Versuchte, sich auszumalen, dass sie Mark haben konnte, und dass es Rossokow nichts ausmachen würde. Sich auszumalen, dass er seine geheimnisvolle Geliebte haben konnte und sie nichts spüren würde.
Aber das konnte sie nicht.
Auf halbem Weg zur Wohnungstür packte er sie am Arm. Sie spürte den Druck seines Willens, spürte, wie er in ihr Bewusstsein eindrang, versuchte, ihre Füße an den Boden zu nageln und ihr Herz an seinen Befehl. Wut nährte ihren Widerstand, und sie entriss ihm den Arm. Als sie die Tür erreicht hatte, drehte sie sich um. Sie wusste, dass sie einfach weggehen konnte, aber sie wollte ihn verletzen, hoffte, dass die wütenden, verzweifelten Worte ihm so wehtun würden, wie sein Verrat ihr wehgetan hatte.
»Ich habe dir geglaubt. Ich dachte, du wüsstest, welche Bedeutung diese Existenz hat. Ich dachte, du wärst so viel weiser als ich. Aber das bist du nicht. Du bist bloß ein verängstigter, müder, alter Mann.«
Dann rannte sie die Treppe außen am Haus hinunter, rannte über die Straße, rannte durch die Stadt. Obwohl sie mit einer schmerzenden Sicherheit wusste, dass er ihr nicht folgte, blieb sie doch erst stehen, als sie den Highway erreicht hatte, um sich die Schuhe anzuziehen.
10
Upon your leaving
I would have that stretching road
Rolled and folded up
And burned to destruction –
Had I but flames from heaven!
Als du weggingst,
wünschte ich mir, ich könnte diese endlose Straße
einrollen und zusammenfalten
und sie zu Asche verbrennen –
wenn ich bloß die Flammen vom Himmel hätte!
Lady Sano
Lisa Takara hörte das Rascheln von Stoff und dann das zischende Flüstern ihrer Schwägerin. Sie brauchte die Augen gar nicht aufzumachen, um zu ahnen, was geschehen war. Paul war unruhig geworden, hatte seinen sechsjährigen Knabenkörper nicht einmal für fünf Minuten stillhalten können. Und der Geistliche hatte wesentlich länger als fünf Minuten gebetet … das bestätigte ihr die Taubheit ihrer eingeschlafenen Füße.
Sie bewegte sich so diskret sie konnte,
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