Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
schüttelte den Kopf. »Sie sind aus den Banditen und Berufsspielern des neunzehnten Jahrhunderts entstanden. Sie stellen Japans Unterwelt dar. Offiziell verfolgt man sie, aber zugleich werden sie öffentlich akzeptiert. Nach dem Krieg gab es viele Möglichkeiten, um zu Geld zu kommen: der Schwarzmarkt, Schutzgelder, Prostitution, Bespitzelung der Kommunisten für die Amerikaner. Und all das habe ich getan. Seit fünfundvierzig Jahren bin ich jetzt der Oyabun der Makato-gumi Yakuza.«
»Es ist doch ganz bestimmt gefährlich, so lange ein und dasselbe zu tun«, stellte Rossokow fest, und Fujiwara nickte. »Und in solcher Gesellschaft.«
»Keine Ehre unter Dieben, wie man bei Ihnen im Westen so schön sagt? Heutzutage ist nirgends mehr viel Ehre zu finden. Die Yakuza setzen sich seit vielen Jahren für den alten Samuraikodex und die davon abgeleitete Lebensweise ein, selbst wenn sie jeder für sich genommen nicht danach leben. Sie schwören mir und der Organisation Treue. Sie geloben, mein Leben vor das ihre zu setzen. Hie und da kommt es noch dazu, dass einer sich den Finger abschneidet, wenn er mich enttäuscht hat. Aber der Fortschritt macht auch nicht vor den Dieben Halt. Sie haben Recht, es fängt an, für mich gefährlich zu werden. Die Zeit für eine Veränderung ist gekommen. «
»Ist das der Grund, warum Sie mit mir Verbindung aufgenommen haben?«
»Teilweise. Und auch, um Sie zu warnen. Aber hauptsächlich, weil ich sehr lange gelebt und nie einen anderen von meiner Art gesehen habe. Sie haben meine Geschichte gelesen. Würden Sie mir die Ehre erweisen, mir die Ihre anzuvertrauen? «
Rossokow sah ihn einen Augenblick lang an. Er hatte noch eine Menge Fragen, die er unbedingt stellen musste. Fujiwara hatte etwas von einer Warnung gesagt, und das hatte in ihm die Alarmglocken erklingen lassen. Er wollte genau wissen, wie die Lage war, ehe er sich Reminiszenzen hingab.
Aber auf der ganzen Welt gab es nur eine Person, die seine Geschichte verstehen konnte. Er hatte seine Vergangenheit Ardeth in ihrem gemeinsamen Gefängnis anvertraut, hatte sich wilden Träumen hingegeben, in denen er die Zukunft mit ihr teilte. Und doch konnte sie ihn mit allem Willen, aller Fantasie und aller Liebe, die es auf der Welt gab, nie so verstehen, wie Fujiwara das konnte. Fujiwara war der Einzige, der keine Fragen zu stellen brauchte, der kein Urteil fällen würde.
Der andere Vampir wartete geduldig. Seine uralten Augen flößten ihm nicht länger Furcht ein.
Rossokow begann zu erzählen.
34
In den Lichtkegeln der Autoscheinwerfer blitzte kurz das Ausfahrtsschild nach Banff auf und verschwand dann wieder. Ardeth sah Akiko an.
»Wir fahren nicht nach Banff?«
»Fujiwara-san hält sich in einer Jagdhütte in einiger Entfernung von der Stadt auf. Wir werden ihn dort treffen.«
»Wird Dimitri Rossokow dort sein?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Akiko und blickte kurz zu ihr hinüber. »Ehrlich, Ardeth, ich weiß es nicht.« Mehr sagte sie nicht, und Ardeth begnügte sich mit Spekulationen, auf die es keine Antwort gab.
Die Annahme, dass er dort sein würde, lag nahe. Es war also gut, darauf vorbereitet zu sein. Sie musste sich zurechtlegen, was sie sagen würde und wie sie es sagen würde. Distanziert, aber nicht unfreundlich, das war vermutlich die beste Haltung, die sie an den Tag legen konnte. Eine sorgfältig aufgebaute Fassade, um ihre wahren Empfindungen zu verbergen. Einfacher würde es sein, gestand sie sich, wenn sie wüsste, worin ihre wahren Empfindungen tatsächlich bestanden. Hoffnung und Zorn, Bitterkeit und Sehnsucht schienen miteinander im Wettstreit zu liegen und immer wieder in verwirrender Abfolge nacheinander die Oberhand zu gewinnen.
Was auch immer sonst geschehen mochte, sie brauchte nicht dortzubleiben. Sie kehrte hierher zurück, um Fujiwara zu sehen, nicht Rossokow. Wenn es keine Antworten gab, würde sie weiterziehen. Sie würde Toronto vergessen, Banff vergessen und nach Westen weiterziehen, nach Vancouver, und dort ein neues Leben aufbauen. Frei von jeder bisherigen Vergangenheit.
Dieser Entschluss war ihr eine Stütze, bis Akiko schließlich den Wagen vor der Jagdhütte zum Stehen brachte. Die mechanischen Vorgänge des Entladens des Wagens lenkten sie kurzzeitig ab, aber dann standen sie in der stillen Eingangshalle, und Ardeth überkam plötzlich ein Frösteln. Rossokow war hier. Das Gefühl seiner Anwesenheit war wie die leichte Berührung einer unsichtbaren Hand an ihrem Arm,
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