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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Rossokow darauf mit einem Nicken geantwortet hatte, hatte er ihm mit einer leichten Verbeugung die hintere Tür aufgehalten.
    Einen Augenblick lang hatte Rossokow innegehalten. Die dunkle Öffnung, die zum Rücksitz der Limousine führte, war ihm plötzlich wie eine mit Velours ausgekleidete Falle erschienen. Dann hatte er sein Unbehagen seiner Neugierde untergeordnet und war eingestiegen.
    Hinten im Wagen war es still. Das einzige Geräusch, das er hörte, war das Zischen der Reifen auf dem Asphalt. Eine undurchsichtige Scheibe trennte den Passagierteil von der vorderen Hälfte des Wagens, und nur die Seitenfenster ließen erkennen, dass sie sich bewegten. Rossokow hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Seine Kenntnisse der örtlichen Geografie beschränkten sich auf die Stadt und die Wälder, die er zu Fuß erreichen konnte.
    Wieder stellte sich ein Gefühl der Unruhe ein. Alte Stimmen, die zur Vorsicht mahnten, wisperten ihm Warnungen zu – quälend vertraut, quälend verführerisch. Warum hatte er sich darauf eingelassen? Zu einem unbekannten Ort zu reisen, noch dazu auf eine Art und Weise, über die er keinerlei Kontrolle hatte? Sich ohne Waffen oder Fluchtplan oder auch nur das geringste Wissen in eine Situation zu begeben, die gefährlich, ja tödlich sein konnte? Bloß aufgrund eines Tagebuchs, von dem er nicht einmal sicher war, dass er dessen Inhalt glaubte.
    Nach der einen Eintragung, die den Tag des Todes und der Verwüstung im Sommer 1945 geschildert hatte, waren keine weiteren mehr gefolgt. Rossokows Wissen um den Zweiten Weltkrieg war eingeschränkt. Er wusste davon, so wie er von den meisten Ereignissen des letzten Jahrhunderts wusste – das er schlafend in einem verlassenen Lagerhaus in Toronto verbracht hatte – aus Ardeths Geschichten, die sie ihm in den langen Nächten in ihrem gemeinsamen Kerker erzählt hatte. Mit Schilderungen aus der Geschichte hatte sie dafür gesorgt, dass er nicht dem Wahnsinn verfiel, und hatte zugleich damit ihre eigene Furcht in Schranken gehalten. Und eine Weile hatte das auch funktioniert.
    Was er seit ihrer Flucht gelesen hatte, hatte ihm offenbart, dass Japan sich von der Niederlage und der Zerstörung erholt hatte und eine bedeutende Wirtschaftsnation geworden war. Rossokow strich versonnen über die dicken Noppen der Polsterung und betrachtete dann die gut ausgestattete Bar im unteren Teil der Trennwand. Allem Anschein nach hatte sich der Vampir, wenn er denn existierte, ebenso erholt. Automobile wie dieses hier waren in Banff nicht allzu sehr verbreitet.
    Es hatte keine Tagebucheintragungen mehr nach jenem schrecklichen Tag im August gegeben … aber ein Blatt mit einer Nachricht. Es war in derselben eleganten Schrift wie das Tagebuch verfasst, und er hatte es zwischen den letzten Seiten des Buches gefunden. Er griff unbewusst an die Tasche seiner Jacke, und seine Finger ertasteten die Umrisse des Buches unter dem Stoff. Er brauchte die Nachricht nicht noch einmal zu lesen, um zu wissen, was sie ihm mitgeteilt hatte:
    Mein Freund,
bitte verzeihen Sie mir diese ungewöhnliche Art und Weise, mit der ich mit Ihnen Kontakt aufnehme. Wenn Sie dieses Tagebuch gelesen haben, wissen Sie, dass es Dinge gibt, über die wir sprechen sollten. Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie sich bereiterklären würden, sich morgen Nacht mit mir zu treffen. Mein Wagen wird Sie kurz nach Einbruch der Abenddämmerung abholen. Ich freue mich auf unsere Bekanntschaft.
Sadamori Fujiwara
     
    Hätte ich ablehnen können?, fragte sich Rossokow. Wenn ich einfach nicht daheim gewesen wäre, als sein Fahrer kam, hätte das der ganzen Sache ein Ende bereitet? Aber er wusste, dass das obsolete Fragen waren. Er hätte nicht ablehnen können. Dazu war seine Neugierde zu groß. Und außerdem: Wenn Fujiwara eine Bedrohung darstellte, dann konnte er sie nicht dadurch zum Verschwinden bringen, dass er sie ignorierte. Wenn er in Gefahr war, dann war es besser, die Gefahr jetzt kennenzulernen. Sie und seinen Feind.
    Er erinnerte sich an die Fragen, die er sich gestern Nacht, auf dem Treppensims sitzend, gestellt hatte. Das Tagebuch hatte keine davon beantwortet, aber es hatte ihn in dem unbewussten Glauben bestärkt, dass es nur das Werk eines echten Vampirs sein konnte. Ob jener Vampir noch existierte war eine andere Frage, auf die es keine Antwort gab.
    Sein Verstand fuhr fort, weitere katastrophale Konsequenzen seiner Entscheidung, diese seltsame Einladung anzunehmen, heraufzubeschwören.

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