Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
noch eine Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren.
Er legte die Hand auf die Tür und schob sie ganz auf.
Zuerst nahm er den Raum selbst wahr. Ein mächtiger offener Kamin aus Granitplatten beherrschte die gegenüberliegende Wand, sein Sims reichte von Wand zu Wand. Zwei Lehnsessel standen davor, behütet von einer schweren Ledercouch, die sie vor dem Rest des Raums schützte. Auch hier musterten ihn fremdartige, bemalte Maskengesichter, die die Wände säumten. Schwere, dunkelgrüne Vorhänge bedeckten eine Wand, trafen aber in der Mitte nicht ganz zusammen, so dass Rossokow in der Lücke die undeutlichen Umrisse seines Spiegelbildes in dem Glas der von den Vorhängen verborgenen Türen erkennen konnte.
Ein Mann erhob sich aus einem der Sessel. Rossokow musterte sein breites Gesicht, die dunklen Augen mit dem feinen Netz von Fältchen darum, den kompakten Körper. Er fühlte das Gewicht der Musterung, der ihn der andere Mann unterzog, den neugierigen Blick, der sein eigenes Aussehen registrierte, und das Suchen nach Hinweisen und Schlüssen.
Es gibt keine äußerlichen Hinweise, dachte er. Du kannst uns nicht ansehen und sagen: »Dies ist ein Vampir« oder »Dies ist keiner.« Du weißt es, oder du weißt es nicht.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte Fujiwara nach langem Schweigen.
»Ich konnte schlecht ablehnen«, bedeutete ihm Rossokow und ging um die große Couch herum. »Ich musste wissen, ob das Tagebuch echt ist.«
»Und, wissen Sie es jetzt?«
»Ja. Ich war ziemlich sicher, dass ein Vampir das Tagebuch geschrieben hat. Ich war nicht so sicher, dass die Person, die es mir geschickt hat, dieser Vampir ist.« Fujiwara gestattete sich ein kleines Lächeln und nickte leicht mit dem Kopf.
»Sehr vernünftig, wenn man Ihre letzten Erlebnisse bedenkt. « Er wies auf den Sessel. »Wollen Sie nicht Platz nehmen? Ich nehme an, es wird ein langer Abend werden.«
Rossokow ließ sich auf dem Sessel nieder und beobachtete, wie Fujiwara es ihm gleichtat. Er stellte fest, dass er erleichtert war zu sitzen. Seine Größe, die ihm angesichts des viel kleiner gewachsenen japanischen Vampirs eigentlich Selbstvertrauen hätte verleihen sollen, hatte ihn eher verlegen gemacht. Er musterte das vom Flammenschein beleuchtete Gesicht. Seine Züge ließen sein wahres Alter ebenso wenig erkennen wie seine Haltung, aber einen Augenblick lang sah Rossokow in den schwarzen Augen etwas, das ihn frösteln ließ. Er ist mehr als vierhundert Jahre älter als ich. Wenn man einmal das Jahrhundert, das ich geschlafen habe, nicht mitzählt, habe ich kaum länger als diese Zeitspanne gelebt.
»Sie haben ohne Zweifel Fragen. Beispielsweise, wie ich von Ihnen erfahren habe.«
»Ja, das würde ich gerne wissen.«
»Dr. Takara war, wenn auch widerstrebend, die Angestellte eines Angestellten von mir.« Rossokow verspürte einen kurzen Stich des Kummers. Er hatte nicht geglaubt, dass die Wissenschaftlerin sie verraten würde. »Sie dürfen nicht denken, dass sie Schuld trägt. Sie ist eine ungemein interessante, junge Frau«, fuhr Fujiwara fort, der seine Gedanken erahnte. »Sie hat sich dem beträchtlichen Druck meines Mitarbeiters widersetzt und ihn belogen. Sie hat mir erst die Wahrheit offenbart, nachdem sie entdeckte, was ich bin.«
»Wie haben Sie meinen Aufenthaltsort herausgefunden?«
»Ich glaube, diese Frage sollte ich jetzt noch nicht beantworten. Später wäre besser.«
»Was geschah mit Ihnen seit dem Krieg?«
»Ich wurde wieder zum Banditen.« Rossokows Überraschung musste sich auf seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn Fujiwara lächelte. Seine beunruhigend alten Augen verschwanden fast in seinen Lachfältchen. »Japan lag in Schutt und Asche. Mein Reichtum war dahin. Und was ebenso wichtig war: Die alten Lebens- und Denkweisen hatten endlich angefangen, für immer zu schwinden. Die amerikanische Besatzung machte ihnen ein Ende. Wie sehr ich mich auf diese alten Verhaltensweisen und meinen alten Status gestützt hatte, wurde mir erst bewusst, als es sie nicht mehr gab. Aber es gab einen Bestandteil meiner Gesellschaft, der sich viel langsamer änderte und sich an das Althergebrachte festklammerte, das nun romantisch verbrämt wurde mit einer Überzeugungskraft, wie sie nur jene aufzubringen vermochten, die »früher« nicht selbst erlebt hatten. Durch sie hatte ich einen Weg entdeckt, um wieder zu Wohlstand zu gelangen und mich mit einer loyalen Armee zu umgeben. Wissen Sie, was die Yakuza sind?« Rossokow
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