Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Hintergrund von Musik, Rauch und der nie ausgesprochenen Angst, plötzlich ganz alleine inmitten der Menge stehen gelassen zu werden.
Später, als sie einen Augenblick lang mal nicht abgelenkt war, sah sie sich im Raum um und dachte, dass Peter Recht hatte. Man hatte tatsächlich das Gefühl, als würde die Welt untergehen. Es war beinahe April und Zeit für die Examensprüfungen oder Abschluss- und Doktorarbeiten – für einige von ihnen bedeuteten sie das Ende der langen akademischen Ausbildung. Kaum ein Gespräch, das sich nicht mit der Zukunft beschäftigte – Anstellungen, weitere Diplome (manche in erster Linie, um der ersten Option aus dem Wege zu gehen), Ehen, Rückkehr nach Hause, um die knapp gewordenen Finanzen aufzufrischen, ehe man sich dem Ernst des Lebens zuwandte.
Und ganz gleich, was sie oder Carla sagten, konnte in Wirklichkeit keiner den Tod von Tony vergessen. Vor zwei Wochen waren die meisten von ihnen zusammen auf einer anderen Party gewesen. In jener Nacht, auf dem Nachhauseweg, war Tony etwas zugestoßen. »Unglücksfall mit tödlichem Ausgang« hatte die Polizei entschieden: zu viel Kokain und ein Sturz von der Brücke an der St. Clair Avenue. Ardeth erinnerte sich daran, wie sie die Nachricht am nächsten Morgen im Radio gehört hatte. Sah noch die Fernsehberichte vor Augen mit der ausdruckslosen blonden Reporterin, die mit gemessener Stimme sprach, während der Sack mit der Leiche den Abhang hinaufgetragen wurde. Dann das Begräbnis, an dem sie alle teilgenommen hatten, für den Augenblick aus ihrem Gefühl der Unverletzbarkeit und dem beruhigenden Glauben herausgerissen, dass ihnen so etwas nicht passieren konnte. Und obwohl es stimmte, dass sie und Tony sich bereits sechs Monate zuvor getrennt hatten, weil ihre Beziehung langsam Schritt für Schritt erkaltet war, stimmte es nicht, dass sie keine Trauer empfand.
All dies trug wahrscheinlich dazu bei, dass sie heute Abend zu viel Wein trank, dachte sie. Sie hatte ebenso viel Angst vor der Zukunft wie die anderen auch. Sie hatte versucht, nicht darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn ihre Doktorarbeit abgeschlossen war und die Bezeichnung Dr. Phil ein fester Bestandteil ihres Namens wurde. Lehraufträge waren rar und die Konkurrenz groß. Sie machte sich keine Illusionen darüber, große Nachfrage für ihren ganz speziellen Studienschwerpunkt außerhalb der akademischen Welt zu finden.
In Zeiten wie diesen wünschte ich mir geradezu, mich einfach bis zur Besinnungslosigkeit betrinken zu können, dachte sie, nahm wieder einen Schluck Wein und wusste zugleich, dass sie’s nicht tun würde. Und dass sie auch nicht an den Joints ziehen würde, die bereits herumgereicht wurden. Zu praktisch veranlagt, zu konventionell oder einfach feige – was auch immer der Grund sein mochte, sie hatte es nie geschafft, auf so bequeme Art Vergessen zu finden. »Du denkst zu viel, mein Mädchen«, sagte sie zu ihrem entfernten Abbild in einem Spiegel, »das ist dein Problem.« Irgendwo in den Schattenseiten ihres Bewusstseins, an dem Ort, an dem sie sorgfältig alles wegschloss, das nicht in ihre wohlgeordnete Welt passte, verspürte sie das dunklen Beben von Träumen, ein unartikuliertes Sehnen nach etwas, das sie einfach daran hinderte, so viel zu denken, nur ein einziges Mal. Ardeth erschauerte und führte ihr Weinglas an die Lippen. Es war nur ein vorgetäuschtes Vergessen, aber immerhin besser als das Versprechen der Dunkelheit, das sie soeben lockend in ihrem Bewusstsein verspürt hatte. Plötzlich stieß sie jemand an, und die lärmende Realität der Party hüllte sie wieder ein, zerrte sie in ein zu langes Gespräch über die byzantinischen Machtkämpfe, die zurzeit in der Fakultät für mittelalterliche Studien neu aufgelegt wurde.
Viele Stunden später am Abend, nachdem sie den Rückzug von all dem Rauch und der Hitze des Hauses angetreten hatte, fand sie sich auf der ziemlich mitgenommenen Couch wieder, die auf dem schmalen Balkon im Obergeschoß stand. Die Party hatte sich auf die Rasenfläche hinter dem Haus ausgedehnt, und sie lauschte träge auf die Gespräche, die unter den Eichen geführt wurden und zu ihr heraufschwebten.
Als sie hörte, wie sich die Tür hinter ihr öffnete, drehte sie sich um und sah Conrad durch die schmale Öffnung treten. »Steht dir der Sinn nach etwas Gesellschaft?«
»Klar. Setz dich. Bis jetzt scheint sich noch keiner daran erinnert zu haben, wie man hier herausgelangt.« Er machte es sich auf der
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