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Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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belebt es und läßt uns sogar glauben, wir seien fast unsterblich - aber wenn es Tropfen um Tropfen, Tag für Tag um einen Tropfen und einen Tag stärker wird, verändert er sich in eine Säure, die unser Blut trübe macht und zerstört. Selbst wenn wir versuchen wollten, mit den Jahren, die wir noch haben, die Jugend zurückzukaufen, so könnten wir es nicht, die Säure der Zeit hat uns verändert, und die chemische Verbindung ist nicht mehr dieselbe, es müßte denn ein Wunder geschehen. Dieses Wunder geschah.«
      Er blieb stehen und starrte auf die schimmernde Stadt. »Ich möchte, daß diese Nacht in meiner Erinnerung die glücklichste meines Lebens wird«, flüsterte er. »Sie ist die schrecklichste. Glauben Sie nicht, daß die Erinnerung das vollbringen kann? Sie muß es doch können! Das Wunder, wenn man es erlebt, ist nie vollkommen, erst die Erinnerung macht es dazu - und wenn das Glück tot ist, kann es sich doch nicht mehr ändern und zur Enttäuschung werden. Es bleibt vollkommen. Wenn ich es jetzt noch einmal beschwören kann: muß es dann nicht so bleiben, wie ich es sehe? Muß es nicht da sein, solange auch ich da bin?«
      Er wirkte fast wie ein Mondsüchtiger, während er auf der Treppe vor dem übermächtig andrängenden Morgen stand, eine armselige, vergessene Gestalt aus der Nacht; und er tat mir plötzlich entsetzlich leid.
      »Es ist wahr«, sagte ich behutsam. »Wie können wir wirklich wissen, ob wir glücklich sind und in welchem Grade, solange wir nicht wissen, was bleibt und wie es bleibt?«
      »Indem wir jeden Augenblick wissen, daß wir es nicht halten können und es auch nicht versuchen«, flüsterte Schwarz. »Wenn wir es nicht festhalten und packen wollen mit unseren Händen und unseren groben Griffen, bleibt es dann nicht ohne Erschrecken hinter unsern Augen? Und lebt es dort nicht weiter, solange die Augen leben?«
    Er blickte immer noch auf die Stadt hinab, in der ein Tannensarg stand und ein Schiff vor Anker lag. Sein Gesicht schien einen Augenblick in seine Teile zu zerfallen, so sehr war es entstellt von einem Ausdruck toten Schmerzes; dann begann es wieder sich zu bewegen, der Mund war nicht mehr eine schwarze Höhle, und die Augen waren keine Kieselsteine mehr.
      Wir gingen weiter zum Hafen hinunter. »Herr«, sagte er nach einiger Zeit. »Wer sind wir? Wer sind Sie, wer bin ich, wer sind die anderen und wer sind die, die nicht mehr da sind? Was ist wirklich, das Spiegelbild oder der, der davorsteht? Der Lebende oder die Erinnerung, das Bild ohne Schmerz? Sind wir verschmolzen jetzt, die Tote und ich, ist sie vielleicht jetzt erst ganz mein, in dieser trostlosen Alchemie, in der sie nun nur noch antwortet, wenn ich will und wie ich will, eingegangen und nur noch da in dem bißchen Phosphoreszieren hier unter meinem Schädel? Oder habe ich sie nicht nur verloren, sondern verliere sie jetzt noch einmal, durch die langsam erlöschende Erinnerung jede Sekunde ein wenig mehr? Ich muß sie halten, Herr, verstehen Sie das nicht?« Er schlug sich vor die Stirn.
    Wir kamen zu einer Straße, die in langen Treppenstufen
    den Hügel hinunterführte. Irgendeine Festlichkeit mußte hier am Tage vorher gefeiert worden sein. Girlanden, die schon welk wurden und nach Friedhof rochen, hingen über eisernen Stangen zwischen den Häusern, und Schnüre mit elektrischen Birnen waren gezogen, die von tulpenartigen, großen Lampen unterbrochen wurden. Hoch darüber, in Abständen von etwa zwanzig Metern, schwebten fünfeckige Sterne aus kleinen elektrischen Birnen. Wahrscheinlich war das alles für eine Prozession oder eines der vielen religiösen Feste errichtet worden. Jetzt stand es kahl und verbraucht im beginnenden Morgen, und nur an einer Stelle, unten, schien etwas mit den Anschlüssen nicht geklappt zu haben - dort brannte noch ein Stern in dem sonderbar scharfen, bleichen Licht, das Lampen am frühen Abend und am Morgen haben.
      »Hier ist der Platz«, sagte Schwarz und öffnete die Tür zu einer Kneipe, in der noch Licht war. Ein kräftiger sonnengebräunter Mann kam uns entgegen. Er zeigte auf einen Tisch. In dem niedrigen Raum standen ein paar Fässer, und an einem der paar Tische saßen ein Mann und eine Frau. Der Besitzer hatte nichts als Wein und kalten gebratenen Fisch.
    »Kennen Sie Zürich?« fragte Schwarz mich.
      »Ja. Ich bin in der Schweiz viermal von der Polizei gefaßt worden. Die Gefängnisse sind gut da. Viel besser als in Frankreich. Besonders im Winter.

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