Die Nacht Von Lissabon
Die Männer haben sie ja schon geholt.‹
Helen richtete sich halb auf. ›Wo ist dann der Unterschied?‹
›Vielleicht kommen die andern leichter frei.‹
›Das weiß man noch nicht. Vielleicht wird man uns besser behandeln, gerade weil man glaubt, wir wären Spione.‹
›Das ist Unsinn, Helen.‹
Sie schüttelte den Kopf. ›Das ist kein Unsinn. Das ist
Erfahrung. Weißt du noch nicht, daß Unschuld in unserem Jahrhundert ein Verbrechen ist, das immer am schwersten bestraft wird? Mußt du in zwei Ländern eingesperrt werden, um das zu begreifen? Ach, du Gerechtigkeitsträumer! Ist noch Kognak da?‹
›Kognak und Pastete.‹
›Gib mir beides‹, sagte Helen. ›Es ist ein ungewöhnliches Frühstück; aber ich furchte, wir haben noch ein abenteuerliches Leben vor uns!‹
›Gut, daß du es so auffaßt‹, erwiderte ich und gab ihr den Kognak.
›Es ist die einzige Art, es aufzufassen. Oder willst du an Verbitterung und Lebensversäuerung sterben? Wenn du den Begriff der Gerechtigkeit ausschaltest, ist es gar nicht so schwer, es als Abenteuer zu betrachten, findest du nicht?‹
Der herrliche Geruch des alten Kognaks und der guten Pastete umwehte Helen wie ein Gruß goldenen Daseins. Sie aß mit großem Genuß. ›Ich wußte nicht, daß es so einfach für dich sein würde‹, sagte ich.
›Mach dir um mich keine Sorgen‹, erwiderte sie und
suchte in ihrem Korb nach weißem Brot. ›Ich komme schon durch. Frauen ist die Gerechtigkeit nicht ganz so wichtig wie euch.‹
›Was ist euch wichtig?‹
›Dies.‹ Sie zeigte auf das Brot und die Flasche und die Pastete. ›Iß, mein Geliebter! Wir werden uns schon durchschlagen. Und in zehn Jahren wird es ein großes Abenteuer sein, und wir werden abends unseren Gästen oft davon erzählen, daß es jeden langweilen wird. Futtere, Mann mit dem falschen Namen! Was wir jetzt essen, brauchen wir nachher nicht zu schleppen.‹
Ich will Ihnen nicht alle Einzelheiten erzählen«, sagte Schwarz. »Sie kennen ja den Weg der Emigranten. Ich blieb nur ein paar Tage im Stadion Colombes. Helen kam in das ›Petite Roquette‹. Am letzten Tag erschien der Wirt unseres Hotels im Stadion. Ich sah ihn nur von weitem; es war uns nicht erlaubt, mit Besuchern zu sprechen. Der Wirt hinterließ einen kleinen Kuchen und eine große Flasche Kognak. Im Kuchen fand ich einen Zettel: ›Madame ist gesund und guter Laune. Nicht in Gefahr. Erwartet irgendwann Transport in ein Frauenlager, das in den Pyrenäen eingerichtet wird. Briefe über Hotel. Madame est formidable!‹ Eingefaltet war ein sehr kleiner Zettel mit Helens Handschrift: ›Sorge dich nicht. Keine Gefahr mehr. Es bleibt ein Abenteuer. Auf bald. Liebe.‹
Sie hatte es fertiggebracht, die nachlässige Blockade zu durchbrechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie. Später erzählte sie mir, daß sie erklärt habe, Dokumente holen zu müssen, die ihr fehlten. Man hatte sie mit einem Polizisten zum Hotel geschickt. Sie hatte dem Wirt den Zettel zugesteckt und ihm zugeflüstert, wie er ihn mir schicken solle. Der Polizist, der für Liebe Verständnis zeigte, hatte das übersehen. Sie hatte keine Dokumente zurückgebracht, dafür aber Parfüm, Kognak und einen Korb mit Essen. Sie liebte zu essen. Wie sie dabei schlank blieb, ist mir immer unerklärlich geblieben. Wenn ich in der Zeit, als wir noch frei waren, aufwachte und sie nicht neben mir fand, brauchte ich nur dahin zu gehen, wo wir unsere Speisen aufhoben - sie hockte dort im Mondschein und nagte mit selbstvergessenem Lächeln an einem Schinkenknochen oder stopfte sich voll mit dem Dessert vom Abend vorher, das sie aufgehoben hatte. Dazu trank sie Wein aus der Flasche. Sie war wie eine Katze, die nachts hungrig wird. Sie erzählte mir, daß sie, als sie verhaftet wurde, den Polizisten warten lassen konnte, bis die Pastete, die der Wirt des Hotels gerade im Ofen hatte, fertig gebacken war. Es war ihre Lieblingspastete, und sie wollte sie mitnehmen. Der Polizist kapitulierte knurrend, da sie sich glatt weigerte, vorher zu gehen. Die Flics scheuten davor zurück, jemand mit Gewalt in den Polizeiwagen zu schleppen. Helen vergaß nicht einmal, ein Paket Papierservietten mitzunehmen.
Am folgenden Tag wurden wir verladen nach den Pyrenäen. Die trostlose und erregende Odyssee von Angst, Komik, Flucht, Bürokratie, Verzweiflung und Liebe begann.«
12
»Es mag sein, daß unsere Zeit einmal die der Ironie genannt wird«, sagte Schwarz.
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