Die Nacht Von Lissabon
Gleichzeitig begann aus den Briefen ein anderes Gesicht mich anzusehen. Wieviel davon der Abwesenheit, meinen eigenen Wünschen und der Fälschung durch die Phantasie zuzuschreiben war, weiß ich nicht. Sie wissen, wie alles sich vergrößert, fast ins Unwirkliche, wenn man gefangen ist und nichts hat als ein paar Briefe. Ein unbeabsichtigter Satz, der nichts bedeutet, wenn er unter anderen Umständen geschrieben wird, kann zum Blitz werden, der einem das Dasein zerstört; und ebenso kann ein zweiter einem für Wochen Wärme geben, obschon er ebenso unbeabsichtigt war wie der erste. Man grübelt über Dinge für Monate, die der andere schon vergessen hatte, als er den Brief zuklebte. Irgendwann kam auch eine Fotografie; Helen stand vor ihrer Baracke mit einer anderen Frau und einem Mann. Sie schrieb, es seien Franzosen, die zur Lageraufsicht gehörten.«
Schwarz blickte auf. »Wie ich das Gesicht des Mannes studiert habe! Ich lieh mir ein Vergrößerungsglas von einem Uhrmacher aus. Ich verstand nicht, warum Helen das Bild geschickt hatte. Sie selbst hatte sich wahrscheinlich nichts dabei gedacht. Oder doch? Ich weiß es nicht. Kennen Sie so etwas?«
»Jeder kennt es«, erwiderte ich. »Gefangenenpsychose ist kein Einzelfall.«
Der Besitzer der Kneipe kam mit der Rechnung. Wir waren die letzten Gäste. »Können wir anderswo noch sitzen?« fragte Schwarz. Der Besitzer nannte uns ein Lokal. »Es sind auch Frauen da«, sagte er.
»Schöne, dicke. Nicht teuer.«
»Gibt es nichts anderes?«
»Ich weiß nichts anderes um diese Zeit.« Der Mann zog seine Jacke an. »Wenn Sie wollen, begleite ich Sie. Ich bin jetzt frei. Die Frauen sind schlau dort. Ich könnte aufpassen, daß Sie nicht betrogen werden.«
»Kann man auch ohne Frauen da sitzen?«
»Ohne Frauen?« Der Besitzer sah uns Verständnislos an. Dann ging ein rasches Grinsen über sein Gesicht. »Ohne Frauen, ich verstehe! Natürlich, meine Herren, natürlich. Aber es sind nur Frauen da.«
Er sah uns nach, als wir auf die Straße traten. Es war jetzt herrlicher, sehr früher Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Salzgeruch war stärker geworden. Katzen strichen durch die Straßen, und aus einigen Fenstern kam schon der Geruch von Kaffee, vermischt mit dem Geruch des Schlafes. Alle Lichter waren jetzt verlöscht. Ein Karren rumpelte unsichtbar, einige Gassen entfernt, Fischerboote blühten wie gelbe und rote Wasserrosen auf dem unruhigen Tejo, und unten lag, bleich und still jetzt und ohne künstliches Licht, das Schiff, die Arche, die letzte Hoffnung, und wir stiegen weiter hinab zu ihr.
Das Bordell war eine ziemlich trostlose Bude. Ein paar schlampige und fette Frauen spielten Karten und rauchten. Sie machten einen lustlosen Versuch und ließen uns dann in Ruhe. Ich sah auf die Uhr. Schwarz bemerkte es. »Es dauert nicht mehr lange«, sagte er.
»Und die Konsulate öffnen nicht vor neun.«
Ich wußte das ebenso wie er. Aber er wußte nicht, daß Zuhören und Erzählen nicht dasselbe sind.
»Ein Jahr scheint eine endlose Zeit zu sein«, sagte Schwarz. »Und dann plötzlich erscheint es nicht mehr lang. Ich versuchte, im Januar zu fliehen, als wir auf Außenarbeit geschickt wurden. Ich wurde nach zwei Tagen gefunden, von dem berüchtigten Leutnant C. mit der Reitpeitsche ins Gesicht geschlagen und für drei Wochen in Einzelhaft bei Wasser und Brot gesteckt. Bei einem zweiten Versuch wurde ich sofort erwischt. Dann gab ich es auf; es war ohnehin fast unmöglich, ohne Lebensmittelkarten und Ausweise durchzukommen. Jeder Gendarm konnte einen schnappen. Und bis zu Helens Lager war es ein weiter Weg.
Das änderte sich, als der Krieg im Mai wirklich begann und vier Wochen später endete. Wir waren in der unbesetzten Zone, aber es hieß, daß eine Kommission der Armee oder sogar der Gestapo das Lager kontrollieren würde. Sie kennen die Panik, die dann ausbrach?«
»Ja«, sagte ich. »Die Panik, die Selbstmorde, die Petitionen, uns vorher freizulassen, und die Schlamperei der Bürokratie, die es oft fast verhinderte. Nicht immer. Es gab Lager, in denen der Kommandant vernünftig war und auf eigene Verantwortung die Emigranten laufen ließ. Manche von ihnen wurden dann allerdings später trotzdem in Marseille und an der Grenze gefaßt.«
»In Marseille! Da hatten Helen und ich bereits das Gift«, erwiderte Schwarz. »Die kleinen Kapseln. Sie gaben einem die fatalistische Ruhe. Ein Apotheker in meinem
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