Die Nacht Von Lissabon
sein, dachte ich, nichts würde sich ändern, und irgendwann würde man verschwinden, ohne daß jemand es merkte. Es war eine der Stunden, die Sie kennen - wenn die Hoffnung verlöscht.«
Ich nickte. »Die Stunde der stillen Selbstmorde. Man wehrt sich nicht mehr und tut fast zufällig und gedankenlos den letzten Schritt.«
»Die Tür öffnete sich«, fuhr Schwarz fort, »und mit dem gelben Licht vom Korridor kam Helen herein. Sie trug einen Korb und ein paar Decken und einen Leopardenmantel über dem Arm. Ich erkannte sie an der Art, wie sie den Kopf hielt und ging. Sie stand einen Augenblick; dann schritt sie suchend die Reihen ab. Sie kam dicht an mir vorbei und sah mich nicht. Es war fast wie damals im Dom von Osnabrück. ›Helen!‹ sagte ich.
Sie drehte sich um. Ich stand auf. Sie sah mich an. ›Was haben sie mit euch gemacht?‹ fragte sie zornig.
›Nichts Besonderes. Wir schlafen in einem Kohlenkeller, deshalb sehen wir so aus. Wie kommst du hierher?‹
›Ich bin verhaftet worden‹, erwiderte sie beinahe stolz. ›Ebenso wie du. Und viel früher als alle anderen Frauen. Ich hoffte, dich hier zu finden.‹
›Warum hat man dich verhaftet?‹
›Warum dich?‹
›Man hält mich für einen Spion.‹
›Mich auch. Mein gültiger Paß war die Ursache.‹
›Woher weißt du das?‹
›Man hat mich soeben vernommen und es mir gesagt. Ich bin kein echter Emigrant. Die weiblichen Emigranten sind noch frei. Ein kleiner Mann mit pomadisiertem Haar, der nach Escargots riecht, hat mich aufgeklärt. Ist das der, der auch dich verhört?‹
›Ich weiß es nicht. Hier riecht alles nach Escargots. Gott sei Dank, daß du Decken mitgebracht hast.‹
›Ich habe mitgebracht, was ich konnte.‹ Helen öffnete den Korb. Zwei Flaschen klirrten. ›Kognak‹, sagte sie. ›Kein Wein. Ich habe von allem die Essenz mitgebracht. Bekommt ihr hier zu essen?‹
›Das übliche. Wir können uns Butterbrote holen lassen.‹
Helen beugte sich zu mir und sah mich an. ›Ihr seht aus wie eine Versammlung von Negern. Könnt ihr euch nicht waschen?‹
›Bis jetzt nicht. Nicht aus Bosheit. Nachlässigkeit.‹
Sie holte den Kognak heraus. ›Die Korken sind bereits gezogen‹, sagte sie. ›Eine letzte Freundlichkeit des Hotelbesitzers. Er meinte, hier gäbe es keine Korkenzieher. Trink!‹
Ich nahm einen mächtigen Schluck und gab ihr die Flasche zurück.
›Ich habe sogar ein Glas‹, sagte sie. ›Wir wollen die Zivilisation aufrecht erhalten, so lange wir können.‹
Sie füllte das Glas und trank. ›Du riechst nach Sommer und Freiheit‹, sagte ich. ›Wie ist es draußen?‹
›Wie im Frieden. Die Cafés sind voll. Der Himmel ist blau.‹ Sie blickte auf die Reihe der Polizisten auf dem Podium und lachte. ›Es sieht hier aus wie in einer Schießbude. Als könnte man auf die Figuren da oben feuern, und wenn sie umkippten, bekäme man eine Flasche Wein als Preis oder einen Aschenbecher.‹
›Hier haben die Figuren die Gewehre.‹ Helen holte eine Pastete aus dem Korb. ›Vom Wirt‹, sagte sie. ›Mit vielen Grüßen und dem Spruch: La guerre, merde! Es ist eine Geflügelpastete. Ich habe auch Gabeln und ein Messer. Noch einmal: Es lebe die Zivilisation!‹
Ich war plötzlich heiter. Helen war da, nichts war verloren. Der Krieg hatte noch nicht begonnen, und vielleicht stimmte es, daß man uns bald freilassen würde.
Am nächsten Abend wußten wir, daß man uns trennen würde. Ich würde ins Sammellager in Colombes gebracht werden. Helen ins Gefängnis ›La petite Roquette‹. Es hätte uns nichts genützt, wenn man uns geglaubt hätte, daß wir verheiratet waren. Auch Ehepaare wurden getrennt.
Wir saßen die Nacht durch im Keller. Ein barmherziger
Wächter erlaubte es uns. Jemand hatte ein paar Kerzen mitgebracht. Ein Teil von uns war schon abtransportiert worden; wir waren noch ungefähr hundert Menschen. Auch spanische Emigranten waren dabei. Man hatte sie ebenfalls verhaftet. Der Eifer, mit dem die Antifaschisten in einem antifaschistischen Lande eingefangen wurden, war nicht ohne Ironie; man hätte glauben können, man wäre in Deutschland.
›Warum trennen sie uns?‹ fragte Helen.
›Ich weiß es nicht. Aus Stupidität; nicht aus Grausamkeit.‹
›Wenn Männer und Frauen im selben Lager wären, gäbe es nichts als Eifersucht und Krach‹, belehrte mich ein kleiner, alter Spanier. ›Deshalb werden Sie getrennt. C’est la
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