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Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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»Fanden Sie Gott?« fragte ich. Es war
    eine rohe Frage, aber sie war mir plötzlich so wichtig, daß ich sie trotzdem stellte.
    »Ein Gesicht im Spiegel«, erwiderte Schwarz.
    »Wessen Gesicht?«
      »Es ist immer dasselbe. Kennen Sie denn Ihr eigenes? Das von Ihrer Geburt?«
      Ich sah ihn betroffen an. Er hatte denselben Ausdruck vorher schon einmal gebraucht. »Ein Gesicht im Spiegel«, wiederholte er. »Und das Gesicht, das Ihnen über die Schulter schaut und dahinter wieder das andere - aber dann auf einmal sind Sie der Spiegel mit seinen endlosen Wiederholungen. Nein, ich habe ihn nicht gefunden. Was sollten wir auch mit ihm anfangen, wenn wir ihn gefunden hätten? Wir müßten keine Menschen mehr sein, um es zu können. Suchen - das ist etwas anderes.«
      Er lächelte. »Ich hatte aber dann nicht einmal Zeit und Kraft mehr übrig dafür. Ich war zu weit unten. Ich dachte nur noch an das, was ich liebte. Ich lebte davon. Nicht mehr an Gott. Nicht mehr an Gerechtigkeit. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Es war die Situation am Flusse. Sie wiederholte sich. Und wieder kam es nur auf mich an. Man kann selbst fast nichts tun, wenn dieser Zustand eintritt. Es ist auch nicht nötig; Überlegung würde nur verwirren. Die Dinge tun sich von sich selbst. Man ist aus der lächerlichen Isoliertheit des Menschen heimgekehrt in das anonyme Gesetz des Geschehens, und alles, was man zu tun hat, ist, bereit zu sein, zu gehen, wenn die unsichtbare Hand einem sanft die Schulter anstößt. Man braucht nur zu folgen; solange man nicht fragt, ist man geschützt. Sie denken wahrscheinlich, ich rede mystischen Unsinn.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich kenne es auch. Es gibt das ebenso in Augenblicken großer Gefahr. Ich habe Leute gekannt, die es im Krieg erlebt haben. Sie verließen plötzlich, ohne Grund, aber auch ohne Zögern einen Unterstand, der eine Minute später zum Massengrab wurde. Sie wußten nicht warum; der Unterstand war nach den Regeln der Vernunft hundertmal sicherer als das ungeschützte Grabenstück, das sie betraten.«
      »Ich tat das Unmögliche«, sagte Schwarz. »Es schien, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Ich packte meine paar Sachen ein und ging eines Morgens aus dem Lager auf die Landstraße. Ich versuchte nicht das Übliche: nachts zu entweichen. Ich ging im vollen Licht des klaren Morgens auf das große Eingangstor zu, erklärte der Wache, ich sei entlassen, griff in die Tasche, gab den beiden Wächtern etwas Geld und sagte ihnen, dafür eins auf mein Wohl zu trinken. Es schien so ausgeschlossen, daß jemand so frech sein könne, ohne Erlaubnis öffentlich das Lager zu verlassen, daß die beiden Bauernjungen in Uniform in der Überraschung nicht daran dachten, nach meinem Entlassungsschein zu fragen.
      Ich ging langsam die weiße Straße entlang. Ich lief nicht, obschon nach zwanzig Schritten das Lagertor sich hinter mir in das Gebiß eines Drachens zu verwandeln schien, der mir nachschlich und nach mir schnappte. Ruhig steckte ich den Paß des toten Schwarz ein, den ich flüchtig vor den Augen der Wache hin und her gewedelt hatte, und ging weiter. Es roch nach Rosmarin und Thymian. Es war der Geruch der Freiheit.
      Nach einer Weile tat ich, als hätte ich an einem Schuh etwas zu binden. Ich beugte mich nieder und blickte dabei zurück. Die Straße war leer. Ich ging rascher.
    Ich besaß keines der zahlreichen Papiere, die um diese Zeit verlangt wurden. Ich sprach einigermaßen französisch und verließ mich darauf, vielleicht für einen Franzosen mit Dialekt gehalten zu werden. Das ganze Land war ja damals immer noch auf der Wanderschaft. Die Orte waren voll mit Flüchtlingen aus den okkupierten Gebieten, und auf den Straßen wimmelte es von Fahrzeugen aller Art, von Karren mit Betten und Hausrat und von flüchtigen Soldaten Ich kam zu einem kleinen Wirtshaus, das einen Garten mit ein paar Tischen hatte und dahinter einen Nutzgarten mit Gemüse und Obstbäumen. Die Wirtsstube war mit Fliesen belegt und roch nach verschüttetem Wein, frischem Brot und Kaffee.
    Ein Mädchen mit bloßen Füßen bediente mich. Sie breitete ein Tischtuch aus und stellte Kanne, Tasse, Teller, Honig und Brot auf. Es war ein Luxus ohnegleichen; ich hatte das seit Paris nicht mehr gesehen. Draußen, hinter der staubigen Hecke, schob sich die zerbrochene Welt vorbei - hier, im Sonnenschatten der Bäume, hielt sich ein zitternder Fleck Friede, mit Bienengesumm und dem goldenen Licht des späten

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