Die Nacht Von Lissabon
abstrakt gewesen, ein Gedanke, eine Vorstellung, von mir selbst erfunden und ausgelöscht und wieder aufgenommen.
Jetzt aber stand ich zwischen ihren Gefährtinnen. Ich hatte sie am Abend vorher an der Einzäunung gesehen, und nun sah ich sie wieder, hungrige Frauen, die seit vielen Monaten allein waren und die trotz der Gefangenschaft Frauen waren und es gerade deswegen stärker fühlten. Was sonst war ihnen geblieben?
Ich ging zur Baracke mit der Kantine. Eine blasse Frau mit roten Haaren stand da zwischen anderen, die Lebensmittel kauften. ›Was wollen denn Sie?‹ fragte sie. Ich schloß die Augen und machte eine Bewegung mit dem Kopf Dann trat ich beiseite. Sie überblickte rasch ihre Kunden. ›In fünf Minuten‹, flüsterte sie. ›Gut oder schlecht?‹
Ich begriff, daß sie meinte, ob ich gute oder schlechte Nachrichten bringe. Ich zog die Schultern hoch. ›Gut‹, sagte ich dann und ging hinaus.
Nach einer Weile kam die Frau und winkte mir. ›Man muß vorsichtig sein‹, erklärte sie. ›Für wen haben Sie Nachrichten?‹
›Helen Baumann. Ist sie hier?‹
›Warum?‹
Ich schwieg. Ich sah die Sommersprossen über der Nase und die unruhigen Augen. ›Arbeitet sie in der Kantine?‹ fragte ich.
›Was wollen Sie?‹ fragte die Frau zurück. ›Auskunft? Ein Monteur? Für wen?‹
›Für ihren Mann.‹
›Das letzte Mal‹, sagte die Frau bitter, ›fragte jemand dasselbe für eine andere Frau. Sie wurde drei Tage später abgeholt. Wir hatten verabredet, sie solle uns Nachricht geben, wenn es gut gegangen sei. Wir haben nie Nachricht bekommen, Sie falscher Monteur!‹
›Ich bin ihr Mann‹, sagte ich.
›Und ich bin Greta Garbo‹, sagte die Frau.
›Weshalb sonst sollte ich Sie fragen?‹
›Nach Helen Baumann‹, sagte die Frau, ›ist oft gefragt worden. Von merkwürdigen Leuten. Wollen Sie die Wahrheit? Helen Baumann ist tot. Sie ist vor zwei Wochen gestorben und beerdigt worden. Das ist die Wahrheit. Ich dachte, Sie brächten Nachrichten von draußen.‹
›Sie ist tot?‹
›Tot. Und nun lassen Sie mich in Ruhe.‹
›Sie ist nicht tot‹, sagte ich. ›In den Baracken weiß man
das besser.‹
›In den Baracken wird viel Unsinn geredet.‹
Ich sah die rothaarige Frau an. ›Wollen Sie ihr einen Brief geben? Ich gehe - aber ich möchte einen Brief hinterlassen.‹
›Wozu?‹
›Wozu nicht? Ein Brief bedeutet nichts. Er tötet nicht und liefert nicht aus.‹
›Nein?‹ sagte die Frau. ›Seit wann leben Sie?‹
›Das weiß ich nicht. Ich habe es auch nur stückweise getan und wurde oft unterbrochen. Können Sie mir ein Stück Papier und einen Bleistift verkaufen?‹
›Da ist beides‹, sagte die Frau und zeigte auf einen kleinen Tisch. ›Wozu wollen Sie an eine Tote schreiben?‹
›Weil das heute oft geschieht.‹
Ich schrieb auf einen Zettel: ›Helen, ich bin hier. Draußen. Heute abend. Am Drahtzaun. Ich warte.‹
Ich klebte den Brief nicht zu. ›Wollen Sie ihn ihr geben?‹ fragte ich die Frau.
›Es gibt heute viele Verrückte‹, antwortete sie.
›Ja oder nein?‹
Sie las den Brief, den ich ihr hinhielt. ›Ja oder nein?‹ wiederholte ich.
›Nein‹, sagte sie.
Ich legte den Brief auf den Tisch. ›Zerstören Sie ihn wenigstens nicht‹, sagte ich.
Sie erwiderte nichts. ›Ich komme zurück und bringe Sie um, wenn Sie verhindern, daß dieser Brief in die Hände meiner Frau kommt‹, sagte ich.
›Sonst noch was?‹ fragte die Frau und starrte mich mit ihren flachen grünen Augen in dem verbrauchten Gesicht an.
Ich schüttelte den Kopf und ging zur Tür. ›Sie ist nicht hier?‹ fragte ich und drehte mich noch einmal um.
Die Frau starrte mich an und antwortete nicht. ›Ich bin noch zehn Minuten im Lager‹, sagte ich. ›Ich komme noch einmal wieder, um zu fragen.‹
Ich ging durch die Lagergasse. Ich glaubte der Frau nicht; ich wollte einige Zeit warten und dann in die Kantine zurückgehen, um Helen zu suchen. Aber plötzlich fühlte ich, wie mich der Mantel unsichtbarer Protektion verließ - ich war auf einmal riesenhaft groß und wehrlos und mußte mich verstecken.
Ich trat aufs Geratewohl in eine Tür. ›Was wollen Sie?‹ fragte mich eine Frau.
›Ich soll die elektrische Leitung nachsehen. Ist hier etwas kaputt?‹ sagte jemand neben mir, der ich war.
›Hier ist nichts kaputt. Aber hier war nie etwas heil.‹
Ich sah, daß die Frau einen weißen
Weitere Kostenlose Bücher