Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Blatt. Dann faltete sie es zusammen, faltete es erneut, faltete es immer wieder, bis sie ein briefmarkengroßes Häufchen zerfallendes Papier in der Hand hielt. Sie schloss die Hand und ballte sie zur Faust, bis ihre Knöchel weiß und spitz hervortraten.
Als Maximilian von der Arbeit nach Hause kam, sagte sie: "Ich möchte nach Hause." Maximilian hob die Augenbrauen. Schließlich nickte er.
Von diesem Jahr an fuhren sie jeden Sommer nach Italien. Zuerst mit dem Zug, in den sechziger Jahren mit dem Fiat, den sie sich gekauft hatten, als es mit dem Verlag bergauf zu gehen begann. War die Zugfahrt durch stundenlange Aufenthalte und häufiges Umsteigen gekennzeichnet, glich die Fahrt mit dem Auto einer regelrechten Expedition, die über unwegsame Passstraßen und an nicht enden wollenden Schweizer Seen entlangführte, ein vierundzwanzigstündiges Abenteuer, das Maximilian am Steuer nur durch die Einnahme großer Mengen, in Thermoskannen mitgeführten Kaffees zu überstehen wusste. Namen wie Gotthard oder Cisa wurden gleichbedeutend mit der großen Anstrengung, die Alpen zu überqueren, die Apenninen.
So kam es, dass sie Italien nie unvorbereitet erreichten. Die gleichförmigen Stunden auf der Straße oder Schiene nutzten sie beide, um sich in der Vorstellung dem Land zu nähern, das sie das ganze Jahr über in einen abgelegenen Winkel ihres Bewusstsein verbannt hatten, hinausgedrängt hatten aus ihrem Leben, um die Kälte der Wintermonate, den Regen des Frühjahrs zu überstehen. Erst auf der Fahrt zurück ließen sie es zu, dass ihre Erinnerungen zurückkehrten. Dann nahm Portoclemente oder Monteforte wieder Gestalt in ihren Köpfen an, das Meer, der marmorweiße Ausläufer der Apenninen, die ganze Küste. Und auch die Menschen kehrten wieder zu ihnen zurück, nahmen ihre angestammten Plätze in ihrem Herzen ein.
Als sie im ersten Sommer nach fast zehn Jahren in Pietrasanta aus dem Zug stiegen, meinten sie tatsächlich, aus der Verbannung heimgekehrt zu sein. Als trauten sie dem Brief nicht, der sie wenige Wochen zuvor in Deutschland erreicht hatte, standen sie blass und ängstlich auf dem Bahnsteig, blinzelten in die tief stehende Sonne und sogen diese seltsame Luft in sich ein, eine Luft, die sie schon vergessen zu haben glaubten, die sie festzuhalten suchten in ihren übervollen Lungen.
Stefano hatte sie mit einem dreirädrigen Gefährt abgeholt, das die Straßen mit dichten Wolken weißen Rauchs einnebelte. Während der Fahrt zur Pension rief er ihnen aus dem offenen Fahrerhaus die eine oder andere Neuigkeit zu, und sein ausgestreckter Arm zeigte auf manch ein Gebäude, das sie noch nicht kannten, auf eine frisch asphaltierte Straße, auf aufgeschüttete Dämme und begradigte Flussläufe. Maximilian und Laura, die auf der Ladefläche auf ihren Koffern saßen, starrten hinaus und wunderten sich, wie viel Zeit vergangen war.
Vor der Pension sagte Laura: "Ich möchte zuerst das Meer sehen", und Stefanos Frau Gina und die Kinder, die vor der Tür auf sie gewartet hatten, liefen laut rufend hinter ihnen her, als sie zur Verladestation hinunterfuhren.
Dann fragte Laura: „Wie ist das Meer? Com’è il mare? “
„ Si alza . Es erhebt sich," antwortete Stefano.
Wie ist das Meer? Eine Frage, die sich alle unaufhörlich zu stellen schienen, und ihnen auch in späteren Jahren immer als erste in den Sinn kam am Anfang des Sommers. Die Frage, die sie morgens unruhig machte, kaum hatten sie den Strand erreicht und ihr Blick hinauseilte, um die Farbe des Meeres zu prüfen. Ein dichtes Postkartenblau, wenn es ruhig war, ein mit der Wellenhöhe immer dunkler werdendes Türkisgrün, ein schmutziges sandiges Braun, war es tatsächlich bewegt. Grau, wo sich die Wolken spiegelten, breite Schaumteppiche, wo sich die Wellen brachen und ihre weißen vom libeccio gepeitschten Kämme. Ganze Sommer, in denen das Meer still dalag wie ein See, so unbeweglich, dass man die Eintönigkeit zu hassen begann, glatt wie Öl, wie man an der Küste sagte. Und dann Wochen, die nur aus mannshohen Wellen zu bestehen schienen, aus roten, in der landwärts treibenden Gischt flatternden Fahnen, die das Baden verboten. Dann stand Giovanni, der bagnino , neben seinem alten Rettungsboot, eine Hand an der Stirn, um sich vor Sonne und Wind zu schützen, und beobachtete die wenigen Unvernünftigen, deren Köpfe wie Korken in der Brandung hüpften, verschwanden, wenn sie unter einem Brecher hindurch tauchten, wieder hochgespült wurden für die wenigen
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