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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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Meter bis zum nächsten Wellenberg.
    Lange blickten sie auf das Meer hinaus, in das golden die Sonne zu fließen schien, während das schräg fallende Licht an einen Gewitterhimmel erinnerte. Im Gegenlicht des Abends schien das Wasser undurchsichtig geworden zu sein. Ein pastellfarbenes Grün, das an die polierte Oberfläche von Marmor erinnerte und nur von einzelnen, vom offenen Meer her an Land rollenden Wellen durchzogen wurde. Laura nahm Maximilian Hand und drückte sie.
    In diesem Sommer holten sie alles nach, was sie in den zehn Jahren zuvor versäumt zu haben glaubten. Sie versuchten es, versuchten es so entschlossen, als könnte man die Orte und Menschen tatsächlich in derselben Art und Weise abschreiten, wie man es in einem Museum mit den Bildern und den anderen Exponaten tat.
    Sie fuhren mit dem Bus zum Lido – die Straßenbahn gab es schon lange nicht mehr – und sahen den Touristen am überfüllten Strand zu, im Hafen von Carrara beobachteten sie, wie die Schiffe mit Marmorblöcken beladen wurden, und in Monteforte suchten sie erfolglos nach der Casa Letizia, die inzwischen einem Wohnblock Platz gemacht hatte. Sie besuchten Vittorias Grab in Pontremoli und die Gräber von Maria und Piero in Massa. Nur zum Steinbruch, zur Cava della Carbonera fuhren sie nicht hinauf, weder zu diesem noch zu sonst einem Steinbruch, weder nach Monte Sant'Angelo noch zu einem der anderen Bergarbeiterdörfer.
    Dafür nahmen sie ihre Spaziergänge am Strand wieder auf, die sie bis zur Flussmündung und in der anderen Richtung zum Anlegesteg oder der ehemaligen Saline führten.
    Doch meistens saßen sie am pensionseigenen Strand unter einem Sonnenschirm oder lagen in der Sonne. Maximilian, der stets eine Tasche mit Manuskripten und Büchern bei sich hatte, las, kaute auf einem Bleistift und brachte in seiner kleinen Schrift Anmerkungen oder Korrekturen zu Papier. Laura lieh sich die Settimana Enigmistica von Stefano aus und nahm sich mit der ihr eigenen Konzentration der verschiedenen Rätselaufgaben an. Oder sie brachte eine Tageszeitung mit, eine Zeitschrift, die sie von vorne bis hinten durcharbeitete, als müsse sie jeden einzelnen Artikel auswendig lernen. Immer wieder schüttelte sie den Kopf oder starrte in die Luft, um über die eine oder andere Meldung nachzudenken.
    Manchmal las Maximilian ihr einen Satz vor, einen ganzen Abschnitt. Dann wechselten sie ein paar Worte. Meistens schwiegen sie aber. Ab und zu sahen sie auf, um sich anzusehen. Dann lächelten sie.
    In der Pension wohnten sie in Lauras ehemaligem Mädchenzimmer, und wenn sie sich in der Hitze des Tages liebten oder in der feuchten Schwere der Nacht, dachten sie an ihren ersten Sommer zurück. Viele Jahre lagen dazwischen, eine Lücke, die ihnen schmal erschien, so schmal, als könne man mit einem Schritt darüber hinweggehen, und die doch so tief war, dass sie ihren Grund nicht zu erahnen vermochten.
    An jenem ersten Tag in Italien sprachen sie zum ersten Mal seit langer Zeit über ihren Aufbruch im Herbst 1944, einen Aufbruch, der an eine Flucht erinnerte und der sie zuerst nach Genua und später ins ausgebombte Hamburg zurückbrachte. Sie sprachen zum ersten Mal seit langer Zeit darüber oder zum ersten Mal überhaupt, denn weder Laura noch Maximilian hatten an jenes Kriegsjahr zurückdenken wollen, an die Zeit, die Maximilian in Monteforte verbracht hatte. Der Krieg war vorbei, ein Albtraum, der mit dem Wideraufbau der zerstörten Städte täglich ein wenig mehr verblasste und bald in ein wohltuendes Vergessen hinüberglitt.
    Nur jener Abend, als er verstört vom Steinbruch zurückkehrt war und sie im Halbdunkel des Flures wartend vorgefunden hatte, leistete diesem allgemeinen Vergessen ein wenig mehr Widerstand. Dieser Abend blieb wie ein Schatten, der ihre Liebe verdunkelte, ein allgegenwärtiger Schatten, der sich langsam von seiner Ursache loszulösen begann, bis man nicht mehr wusste, woher er kam. Sie hatte ihn angestarrt, und er hatte den Kopf geschüttelt, langsam, so langsam, dass ihre Augen hin- und hergewandert waren, während sie sich mit Tränen gefüllt hatten. Dann hatte sie sich auf ihn gestürzt, hatte ihn mit ihren Fäusten bearbeitet und schluchzend den immer gleichen Satz wiederholt: "Du hast es mir doch versprochen!" Wie versteinert hatte er dagestanden. Seine Arme hatten wie leblos heruntergehangen, unfähig, sich um sie zu legen, unfähig, sich überhaupt zu bewegen. Seit jenem Abend hatten sie nicht mehr über Pieros Tod

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