Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
ihr. Kein Mond war zu sehen, und die Nacht schien undurchdringlich. Er legte ihr die Hände auf die Schultern. "Lass ihm Zeit."
Lange antwortete sie nicht, schließlich nickte sie. "Vielleicht kommt er morgen."
Sie hatte ihm jede Woche einen Brief geschrieben. Briefe, die selten mehr enthielten, als die Schilderung ihres Alltags, in denen sie ihm in vielen Einzelheiten von Menschen und Orten berichtete, so als könnten ihr diese dadurch selbst vertrauter werden. Selten hatte er ihr geantwortet, und dann waren es wenige Zeilen gewesen.
Tatsächlich dauerte es eine Woche, bis sie ihn wiedersah. Vieri kam auf einer Vespa, auf der zwischen seinen Beinen auch ein dreijähriges Kind saß. Er nahm es auf dem Arm, ging in die Pension hinein, küsste Laura auf die Wange und schüttelte Maximilian die Hand. "Habt ihr euch gut eingelebt?" fragte er, während das Kind die Fremden ernst betrachtete. "Gianluca", fügte er dann hinzu, "das ist Oma Laura und Opa Massimiliano." Das Kind sagte nichts, schien gar nicht zugehört zu haben, und Vieri setzte es ab, gab ihm lachend einen Klaps und sagte: "Du kannst zu Onkel Stefano gehen. Er ist in seinem Zimmer." Gianluca lief davon.
Während Maximilian und Vieri einige Worte wechselten, dachte Laura an die Hochzeit, zu der sie nicht hatte kommen können, und an die Geburt ihrer beiden Enkel, die sie ebenfalls versäumt hatte. Sie hatte die Fotos gesehen, doch erst an diesem Tag, an dem sie ihrem Enkelkind leibhaftig begegnete, verstand sie zum ersten Mal, dass Vieri tatsächlich erwachsen geworden war, dass er eine eigene Familie hatte, eine Familie, die ihr so fremd war, dass sie Angst bekam, sie hätte ihren Sohn verloren, hätte ihn bereits verloren, als sie sich ihm vor langer Zeit in Deutschland noch nahe gefühlt hatte in ihren Briefen.
Sie standen noch immer im Gang, als Vieri wieder aufbrach. "Ich hole ihn wie üblich ab", sagte er zu Gina, die aus der Küche gekommen war. "Benimm dich anständig!" rief er hinauf. "Gianluca, hast du mich verstanden?" Schließlich sagte er zu Laura gewandt: " Beh , wir sehen uns. Dann stelle ich euch Paola vor – und Marietta... Sie ist noch ganz klein." Er schien noch etwas anfügen zu wollen, schwieg aber und ging. Er ist immer noch dünn, dachte Laura, dünn und groß, fast so groß wie sein Vater.
"Du hast dich verändert", sagte Maximilian ein paar Tage später zu ihr. "Italien scheint dir gut zu tun. Ich erkenne dich kaum wieder." Sie lagen im Bett, und er streichelte ihre im Mondlicht bläulich schimmernden Brüste. Sie hatte sich tatsächlich verändert, dachte er. Sie war fröhlicher geworden, lebendiger – und schöner, so schön, wie sie in jenem ersten Sommer gewesen war. "Du solltest hier leben. Noch nie habe ich so deutlich gespürt, dass du hierher gehörst."
"So lange du bei mir bist, geht es mir gut."
Er lächelte. "Du lügst." Er nahm ihr eine Strähne aus der Stirn und strich über das Haar, das offen auf dem Kissen lag.
"Max", sie zog das Laken höher und wandte sich ihm zu, "ich bin deinetwegen nach Deutschland gegangen, nur deshalb und sonst aus keinem anderen Grund."
Er lehnte sich zurück und sah zur Decke, die im schwachen Licht verschwamm. "Es spielt keine Rolle, warum du mitgekommen bist. Was für mich zählt, ist einzig, dass du es getan hast. Und es spielt auch keine Rolle, warum du während der Besatzungszeit für mich arbeiten wolltest. Du wirst deine Gründe gehabt haben, aber diese Gründe haben keine Bedeutung für mich. Mir reicht er, dass du zu mir zurückwolltest."
Laura schüttelte den Kopf. Aus seinen Worten meinte sie dieselbe Gleichgültigkeit herauszuhören, die sie schon in der Casa Letizia so aufgebracht hatte. Sie hatte ihn hintergangen, und dafür fühlte sie sich schuldig. Das Todesurteil und die Zeit ihrer Verbannung in Deutschland betrachtete sie als gerechte Strafe für ihren Verrat.
Maximilian fuhr fort: "Weißt du, ich könnte jetzt sagen, ich hätte es gewusst – oder geahnt. Oder, im Gegenteil, ich hätte nichts gewusst, nichts geahnt. Aber das war nicht so. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht ." Er schloss die Augen. "Natürlich wusste ich, dass Stefano zur Widerstandsbewegung gehörte, Vieri. Im Grunde gehörte jeder dazu, du, dein Vater..." Er stockte. "Das war genauso selbstverständlich wie die Tatsache, dass ich eine deutsche Uniform trug, dass ich die Arbeit tat, die getan werden musste. So wie ihr das getan habt, was ihr habt tun müssen." Er biss sich auf die
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