Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
einmal hatte die Region einen Aufschwung ohnegleichen erlebt, und dann waren zwanzig magere Jahre gefolgt.
Vieri, der schon eine Weile ziellos im Zimmer umher gegangen war und sich beiläufig umgesehen hatte, gesellte sich zu ihnen. Er ließ sich auf die Couch fallen. Mit den Fingern rieb er sich die Augen.
„Du hast getrunken“, stellte Paola fest. Vieri antwortete nicht. Eine Weile sagte niemand ein Wort.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte Laura.
„Warum sollte es mir nicht gut gehen?“ Vieri sah auf. „Ich habe eine wunderbare Frau, drei wohlgeratene Kinder, und meine Mutter und mein Vater haben beschlossen, nach fast einem halben Jahrhundert zum ersten Mal gemeinsam im gleichen Land zu leben wie ich. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde ich Purzelbäume schlagen vor Glück.“
„Musst du immer alles verderben?“ Paolas Gesicht war hart geworden.
Vieri antwortete nicht. Annalisa stand auf und begann die leeren Gläser und das Kaffeegeschirr in die Küche zu tragen.
„Nein, mein Lieber, du bist nicht mehr zwanzig, aber du führst dich auf, als wärst du es“, fuhr Paola fort. „Der Herr Professor! Wann hast du das letzte Mal eine Vorlesung gehalten oder ein Seminar? Vor einem Jahr? Oder sind es schon zwei? Wenn du eine richtige Arbeit hättest, ich meine, eine Arbeit, wie sie andere Männer haben, dann ginge es dir besser. Und du kämst auch nicht auf dumme Gedanken.“
„Ich glaube nicht, dass du das verstehst.“
„Nein, deine Frau versteht das nicht. Deine Frau ist nämlich dumm, strohdumm. Sie hat keine Ahnung vom Leben und auch keine Augen im Kopf!“
Vieri seufzte. Er machte Anstalten aufzustehen. „Es ist besser, wenn ich nach Pisa fahre.“
„Ja, fahr du nur nach Pisa! Fahr nur zu deinen Studentinnen.“ Heftig stieß sie die Luft aus. „Studentinnen, dass ich nicht lache! Was studieren die denn, diese Flittchen? Ich weiß schon, was die besonders gut können, aber ich halte lieber meinen Mund!“
Abermals seufzte Vieri. Zu Laura gewandt sagte er: „So ist Italien, Mamma. Aber vielleicht ist es nur diese von aller Vernunft verlassene Gegend, in der sich der blinde Kleinbürger dem historischen Wandel entgegenstellt.“ Er lachte rau, und dann sprach über die Zeiten, die sich geändert hatten, und über das neue Denken, das jetzt hoffentlich bald Einzug halten würde. Schließlich stand er auf. „Es wird Zeit für mich. Grüßt du deinen Mann von mir?“
„Willst du das nicht selbst tun?“
Er schüttelte den Kopf. Dann hob er die Schultern, fast entschuldigend fügte er hinzu: „Es ist der erste Tag...“ Und dann lächelte er, und es war ein Lächeln, das Laura an früher erinnerte, an den halbwüchsigen Sohn, den sie einmal hatte, dem oft dieser Ausdruck im Gesicht stand: spitzbübisch und ein wenig verlegen.
Später, als Laura mit Maximilian im Bett lag, erzählte sie ihm von diesem Gespräch: „Es war seltsam, er klang fast wie du, damals...“
„Ich war sehr jung.“
„Es ist merkwürdig, ich habe niemals daran geglaubt, weder damals noch jetzt. Und doch, es ändert sich etwas, immer ändert sich etwas, ohne dass wir es merken.“
Sie kuschelte sich an ihn. Während seine Hand über ihre kühle Haut strich, sah er zum Fenster, das sich wie ein graues Rechteck in der Schwärze der Wand öffnete. Noch immer sangen die Zikaden. Wie eine unsichtbare Hand bewegte ein Luftzug die Vorhänge.
Als er schon glaubte, sie sei eingeschlafen, sagte sie: „Weißt du, ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass wir dieses Leben führen könnten. Ich meine, dass wir hier zusammen leben würden.“
„Ja, es hat sehr lange gedauert.“
Sie legte sich auf ihn und küsste ihn. „Vielleicht...“ Ihre Zunge tastete über seine Lippen, während ihr Becken sich gegen den seinen drückte. „Vielleicht ist es ein Traum.“ Sie stöhnte leise auf. „Wenn ich also schlafen sollte“ – sie öffnete die Schenkel und suchte den Widerstand zwischen seinen Beinen – "dann lass mich schlafen.“
2. Kapitel
Mitte der fünfziger Jahre war der ersehnte Brief endlich gekommen. Laura musste sich auf den Küchentisch stützen, weil ihr plötzlich schwindlig wurde. Sie wischte sich die Tränen ab und nahm den hölzernen Bilderrahmen von der Wand. Seit fast zehn Jahren hing er genau über dem Brotkorb, und sie löste umständlich den Karton von der Rückseite, um das vergilbte Blatt Papier herauszunehmen. "Im Namen des Volkes", las sie. Lange starrte sie auf das zitternde
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