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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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dich um Verzeihung bitte, dann dafür, dass ich es dir jetzt erst erzähle.“ Durch die heruntergelassenen Jalousien drang nur wenig Tageslicht herein, und das Halbdunkel des Raumes verschwamm vor Maximilians Augen.
    Piero kniete wieder vor ihm. Er kniete vor ihm, als sei die Zeit in diesem Augenblick stehen geblieben. Es gab keine dreiunddreißig Jahre, die dazwischengelegen hätten. Er kniete vor ihm, wie er es schon immer getan hatte und es für alle Zeiten täte. Ein Bild, das sich in sein Gehirn eingebrannt hatte. Er sah Pieros Hinterkopf vor sich, sah jedes einzelne der dünnen grauen Haare, sah das Blut, das aus einer Platzwunde hinter dem Ohr langsam den Hals hinunterrann. Ein Wunder, dachte er, er wird bluten, und es wird niemals aufhören.
    Und dann war dieses kalte schwarze Ding in Maximilians Hand, etwas, dass daran zog, so schwer daran zog, dass er Mühe hatte, es aufzurichten, und Hauptmann Engel, der ihn anfeuerte, ihm drohte, der schrie und fluchte, ihm schmeichelte, der seltsame Verse zitierte und manche Bibelstelle auswendig zu kennen schien. Und während der Lauf der Pistole in seiner Hand sich zitternd hob, bis er genau auf die kahle runde Stelle in der Mitte von Pieros Hinterkopf zeigte, vergaß er jenen anderen Lauf, der sich in seinen eigenen Nacken bohrte, der in seinem eigenen Kopf eingedrungen schien und mit seiner Kälte alles Denken ausgelöscht hatte. Nur noch das unverständliche Murmeln der Menschen, ihre Gebete. Und die Tropfen, die schwarzen Tropfen, die dick und schwer von der Decke fielen und auf dem Stein zerplatzten wie seine Gedanken. Wie ein Schmatzen, dachte er, wie ein leises Schmatzen. Ganz von allein krümmte sich sein Finger um den Abzug.
    „Ich wollte abdrücken“, sagte er, „hätte ich es getan, wäre ich nicht hier.“
    „Von Kampen, Sie sind ein verdammter Narr.“ Hauptmann Engels Stimme war leise geworden, fast flüsterte er. „Sie werden sterben, und wissen Sie, warum Sie sterben werden? Nein! Nicht, weil Sie meine Befehle missachten oder mit dem Feind fraternisieren. Sie werden sterben, weil Sie ein schlechter Soldat sind. Sie werden sterben, weil Sie ein Wasserflugzeug angefordert haben, um Wasserski zu fahren, während unsere abgeschossenen Piloten im Meer abgesoffen sind wie die Ratten, weil niemand kam, um sie herauszuholen.“ Maximilians Pistolenlauf sank um einige Zentimeter. „Oh, ja, von Kampen, wir wissen alles über Sie, der SD weiß alles und die Gestapo. Und wir wissen noch mehr. Wir wissen, dass Sie einer kleinen jüdischen Hure zur Flucht verhelfen wollten. Dass Sie einem Fluchthelfer eine große Summe bezahlt haben, um diese saubere Dame und ihren Vater außer Landes zu schaffen.“ Plötzlich lachte er laut, brüllte fast vor Lachen. „Von Kampen, von Kampen, wir haben ihr helfen können, ihr und ihrem Vater, glauben Sie mir, aber nicht nach Amerika! Sie sind beide geflogen, durch den Schornstein hinaus sind sie geflogen!“ Er hatte ihm die Pistole hart in den Nacken gedrückt. „Deshalb, von Kampen, werden Sie sterben, nur deshalb. Und wenn Knippschild nicht eine unerklärliche Schwäche für Sie hätte, wären Sie schon lange abgeholt worden.“
    „Ich habe es nicht getan. Ich konnte Piero nicht mehr erschießen, auch wenn ich noch zwei Minuten vorher einfach abgedrückt hätte“, sagte Maximilian. „Natürlich war das vollkommen gleichgültig, denn irgendwann stieß mich Engel beiseite und hat ihn selbst mit einem Kopfschuss getötet. Aber ich stand da, die Pistole noch immer in der Hand... Wie betäubt. Und ich hätte Engel selbst erschießen können oder mich oder uns beide. Es war mir gleichgültig, ob ich sterben würde oder nicht, in diesem Augenblick habe ich es mir vielleicht sogar gewünscht. Doch dann riss er mir die Pistole aus der Hand, gab mir einen Stoß, dass ich fast fiel, und zwei seiner Männer brachten mich hinaus. ‚Ich will Sie nie wieder sehen‘, brüllte er mir hinterher, ‚nie wieder, haben Sie mich verstanden?’“
    Lange blieb es still. Irgendwann fragte Vieri: „Und du bist tatsächlich Wasserski gefahren?“
    Maximilian lächelte matt. „Die Kriege sind seltsam geworden. Sie sind blutiger, als sie es jemals waren, und doch manchmal wie Spiele.“ Er dachte an das Gas, das nachts wie etwas Lebendiges durch den Stacheldrahtverhau drang, über die nasse Erde quoll, um sich in die Schützengräben zu ergießen, eine gelbe, fast flüssige Masse, an die Angst, an den rasenden Atem, der einen schwindlig

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