Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
um jene achtzehn Jahre seiner Kindheit und Jugend, die Maximilian nicht miterlebt hatte. Auch wenn es kein chronologischer Bericht war, nichts, was die Jahre in ihrer Aufeinanderfolge nachgezeichnet hätte wie ein Logbuch, am Ende meinte er, dabei gewesen zu sein, fühlte er sich, als habe nicht Sando an ihrer Seite gestanden, sondern er selbst. Manchmal dachte Maximilian, dass sie es als ihre letzte große Aufgabe ansah, mit ihm die Jahre zu teilen, die er versäumt hatte.
Es waren achtzehn Jahre, die in seinem Leben fehlten. Eine scheinbare Lücke nur, gab es doch diese andere Zeit in Deutschland, die Jahre seiner Ehe mit Anne, der Arbeit im Verlag, und doch vermochten sie das schwarze Loch nicht zu füllen, das er stets in sich spürte, dachte er seinen Sohn, an Laura. Nie fühlte er so deutlich wie in diesen sechs Monaten, dass er sich falsch entschieden hatte, dass das Leben, das er gewählt hatte, jenes andere, auf das er verzichtet hatte, nicht aufwog. So war er Laura dankbar dafür, dass sie ihm jene Zeit zurückgab, auch wenn es nur die Erinnerung daran war, eine Erinnerung, die irgendwann zu seiner eigenen würde.
„Weißt du noch, wie er mit diesem schrecklichen Ausweis nach Hause kam?“ Laura hob den Blick und kniff ein wenig die Augen zusammen, als könne sie so das Bild des Duces besser erkennen. „Er war so stolz drauf! Es tut mit heute noch weh...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe die Stricknadel genommen und zwei Löcher hineingebohrt – genau dort wo diese kleinen gemeinen Augen waren. Vieri hat geschrieen, als hätte ich ihm die Stricknadel in seine eigenen Augen gebohrt. Dann habe ich ihm gesagt: ‚So, jetzt kannst du gehen und es herumzeigen!’“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen.“
Zuerst war es Maximilian seltsam vorgekommen, mit der Zeit hatte er sich aber daran gewöhnt: Laura schloss ihn in ihren Erzählungen stets mit ein. Kein einziges Mal erwähnte si e Sandro, ihren ersten Ehemann. Immer war es Maximilian, der dessen Rolle spielte. Sie sprach von „uns“, von „wir“, sagte gern „Weißt du noch?“ oder „Erinnerst du dich noch?“, und Maximilian gewöhnte sich daran zu nicken, „Ja, du hast Recht“ zu murmeln, „so war das“, und wenn er die Geschichte schon einmal gehört hatte, dann war er es, der die eine oder andere Einzelheit anfügte und sie zustimmend nicken oder lächeln ließ.
Sie war nicht verrückt geworden, verschroben oder senil. Es war ein Spiel, wie sie beide wussten, das ihnen schon nach wenigen Tagen in Fleisch und Blut übergegangen war. Und obwohl es nur ein Spiel war, es blieb Maximilian bis zuletzt unheimlich.
Ein einziges Mal noch schliefen sie zusammen.
Es war gegen Ende des Jahres, zwischen Weihnachten und Neujahr, in jener Zeit, wo das Jahr noch einmal innezuhalten und sich mit neuer rätselhafter Kraft gegen sein baldiges Ende aufzulehnen scheint, bevor es endgültig erlischt. Es regnete. Es regnete so, wie es im Winter an der Küste häufig regnet. Dichte Wasservorhänge, die landwärts über die Straßen getrieben werden und gegen die Fenster klatschen, als schütte man Eimer aus. Tropfen, die schwer wie Steine in die knöcheltiefen Pfützen fallen und das Wasser hoch aufspritzen lassen. Es regnet stunden-, tage-, manchmal wochenlang.
Laura stand bewegungslos in ihrem Schlafzimmer. Ihre Hände lagen auf der kalten steinernen Platte der Kommode. Sie betrachtete die Fotos, die in ihren Rahmen und Halterungen aufgestellt waren und wie immer einen Halbkreis bildeten. Maximilian, der sie durch die halb geöffnete Tür schon geraume Zeit so hatte stehen sehen, trat ein. Es war schon später Vormittag, das Zimmer lag im Halbdunkel. Draußen rauschte der Regen. Er stellte sich hinter sie und folgte ihrem Blick. Lange sagten sie nichts.
Dann umfasste er sie mit den Armen und drückte seinen Kopf in ihr offenes, von grauen Strähnen durchzogene Haar. Er spürte, wie sie sich verhärtete, aber sie entzog sich ihm nicht.
„Manchmal denke ich, dass wie ohne ihn“ - mit dem Kopf deutete sie das Fotos des toten Bruders - „gar nicht zusammen wären.“
„Vieri?“ fragte Maximilian.
Sie nickte. „Du weißt nicht, wie viel es mir bedeutet hat, mit dir über ihn zu sprechen. Du warst der erste Mensch, der mich wirklich verstanden hat. Wenn wir über ihn gesprochen haben, dann“ - sie suchte nach Worten - “dann war es fast so, als sei er wieder am leben. Ich wollte ihn mit dir teilen,
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