Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Wasser wagen, die das Herz aussetzen ließ und die Haut betäubte, um dann später zu brennen wie Feuer - war man sich später weithin einig, dass es nicht das Wasser selbst gewesen war, das Stefano umgebracht hatte.
Man sah im tragischen Tod seines einzigen Neffen, eines Neffen, dem er zudem lange Jahre fast ein Vater gewesen war, den entscheidenden Auslöser. Nicht den Grund, nein, das nicht. Hätte man einen Grund gesucht, wäre man unweigerlich zu jenem ersten Nachkriegsjahr zurückgekehrt, zu jener seltsamen Reise nach Rom, die ihn verändert hatte, so ausgewechselt hatte, als wäre ein anderer an seiner Statt aus der Hauptstadt zurückgekommen. Auch der Niedergang der Pension konnte eine Rolle gespielt haben, ihr erst kürzlich erfolgter Verkauf an eine mailändische Hotelgruppe, dem er sich in seltener Eintracht mit der ganzen Familie bis zuletzt widersetzt hatte.
An diesem Mittsommertag war er am späten Nachmittag an den Strand gekommen.
Tagsüber hatte er noch eines der Schleppsiebe repariert, hatte ein neues Drahtgeflecht zurechtgeschnitten und mit wenigen, sauber angebrachten Stahlklammern befestigt – eine Arbeit, die er seit sechzig Jahren verrichtete und bei der er es, wie bei vielem anderen, zu einiger Meisterschaft gebracht hatte.
Die Pension hatten sie ihm Frühjahr verkaufen müssen. Nicht einmal die neue, Erfolg versprechende Saison hatten sie abwarten dürfen. Mit den explodierenden Zinsen waren die Kredite, die sie Ende der sechziger Jahre aufgenommen hatten, jährlich größer, anstatt kleiner geworden. Hinzu kam, dass der Umbau der Pension ein paar Nummern zu groß geraten war. Die hochfliegenden Erwartungen aus den Goldenen Sechzigern hatten sich nicht erfüllt. Es kamen längst nicht so viele Gäste wie erhofft, und auch die Preise, die sie ihren allzu optimistischen Berechnungen zugrunde gelegt hatten, ließen sich nicht erzielen.
Nach getaner Arbeit pflegte Stefano meist bis zur Fünfhundert-Meter-Boje zu schwimmen. Eine Angewohnheit, die er erst nach dem Krieg angenommen hatte und der er sommers wie winters mit derselben unnachgiebigen Entschlossenheit nachging, mit der er manches andere tat. Mit dem Alter und der nachlassenden Kraft seiner Beine – das jahrelange Rauchen ließ ihn längst mehr schlurfen als gehen – hatten sich diese täglichen Leibesübungen verkürzt, zuerst um fünfzig oder hundert Meter, nach und nach aber so weit, dass er schließlich nur noch im brusthohen Wasser dümpelte und sich von der Strömung den Strand hinauf- oder hinuntertreiben ließ, das Gesicht stets zur untergehenden Sonne gewandt.
Als er an diesem Juninachmittag in seiner zu weiten Badehose aus der Kabine kam und mit kleinen Schritten zum Sonnenschirm trippelte, sah Marietta auf. Er war noch weit entfernt, als sie ihm zuwinkte, ihn dabei betrachtete, sein seltsames vornübergebeugtes Gehen, seine Alte-Männer-Brust, die an ihm herunterhing wie ein zu weit gewordenes Hemd. Stefano war alt geworden. Das war unübersehbar, und sie wunderte sich, dass er in einem Jahr stärker gealtert schien als in all den Jahren zuvor, die sie ihn kannte.
Als er schließlich vor ihr stand, schien er bester Laune, er sang sogar leise vor sich hin, und Marietta sah ihn fragend an. „Geht es dir gut?“
„ Volare, oh oh! Cantare, oh oh oh oh! Nel blu dipinto di blu, felice di stare lassù …” Er strich Mariettas Tochter Barbara, über die karottenroten Locken.
„ Zio “, flüsterte das Mädchen und strahlte ihn an. Es hatte eine schneeweiße, eine beängstigend weiße Haut. Sommersprossen überzogen sie so zahlreich und dicht wie Blumen eine Wiese.
„Warum sollte es mir nicht gut gehen?“ Er sah zur Sonne, die noch hoch über der Halbinsel der Punta Bianca stand. „Es wird Sommer. Es ist Sommer. Vielleicht wird es nie mehr Sommer geben als heute“, sagte er lächelnd. Er hielt eine weiße, viel zu große Badekappe in Händen, an der er herumzupfte, als müsse er ihr erst eine Form geben, um sie aufsetzen zu können.
Marietta runzelte die Stirn. „Das Wasser ist noch kalt. Du wirst dir den Tod holen.“
Stefano blickte aufs Meer hinaus, das grau und ruhig unter der sinkenden Sonne lag. Eine einzige glitzernde Lichtspur, gerade wie eine Straße, führte nach Westen. „Ich werde ihn fragen, ob er mich behalten will.“ Stefano schien gelassen, fast fröhlich. „Ich werde ihn fragen.“
„Du solltest so etwas nicht einmal denken!“
„Es spielt keine Rolle, wann man stirbt, ob früher oder
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