Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
haben.“
„Ich glaube, du hättest eine guten Vater abgegeben“, sagte Vieri, „einen wirklich guten.“
9 . Kapitel
Als das Radio am nächsten Morgen die Nachricht von Vieris Tod brachte, saßen Laura und Maximilian am Frühstückstisch. Vieri Tarabella, einer der führenden Köpfe der Lotta Proletaria , sei in der Nacht im Sondergefängnis von Livorno gestorben. „Verschieden“, sagte die Frau mit der freundlichen Stimme. Er sei das dritte Opfer des seit nunmehr zweiundvierzig Tagen andauernden landesweiten Hungerstreiks. Einige weitere der dreiundfünfzig überlebenden Gefangenen befänden sich in einem kritischen Zustand. Führende Politiker der Opposition hätten eine erneute Diskussion über die Zwangsernährung gefordert.
Keines von beiden sagte ein Wort. Laura faltete ihre Serviette sorgfältig zusammen und strich sie glatt. Dann entfaltete sie diese wieder, breitete sie aus, um sie erneut zusammen zu legen. Maximilian rührte in seinem kalten Kaffee und sah ihr dabei zu. Irgendwann - im Radio wurden schon längst die Schlager des Vormittagsprogramms gespielt - steckte sie die Serviette in den silbernen Ring und stand auf. Im Schlafzimmer suchte sie ihre persönlichen Gegenstände zusammen und trug sie ins Gästezimmer.
„Heute schlafe ich hier“, sagte sie. „Heute und morgen und die restlichen einhundertachtundsiebzig Nächte, die ich noch zu leben habe.“ Aber vielleicht sagte sie nicht „einhundertachtundsiebzig“, vielleicht nannte sie eine andere oder überhaupt keine Zahl, aber es kam Maximilian so vor, als wisse sie genau, wie viel Zeit ihr bliebe.
Maximilian, der sie in diesen sechs Monaten aufmerksam beobachtete, aus ihrem Verhalten jene Erklärungen abzuleiten versuchte, die sie ihm nicht geben wollte oder konnte, gelang es nicht, sie wirklich zu verstehen.
Auch wenn Laura die Art und Weise veränderte, wie sie ihre Tage verbrachte, es gab nichts Spektakuläres oder Dramatisches, was auf den Tod ihres einzigen Sohnes folgte. Sie schien sogar ruhiger, gelassener. Stundenlang saß sie auf der Terrasse und blickte in das Grün ihrer Orangen- und Zitronenbäumchen oder hinunter zum Meer, das die Farben des Herbstes angenommen hatte, des Winters. Oft hatte sie die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Nur das Zucken eines Augenliedes, das Auf und Ab der Mundwinkel, als folgten sie einer Geschichte, zeigten, dass sie wach war. Wach war oder träumte, sich etwas so lebhaft vorstellte, dass es gleichgültig war, ob sie wachte oder schlief.
Abends saß sie am Esstisch über ihren Fotoalben. Dann schlug sie die raschelnden Trennblätter zurück, strich sie sorgfältig glatt und ihre Finger glitten über die Oberfläche der Bilder als streichelten sie sie. Wenn Maximilian den Raum betrat, sah sie auf und lächelte.
Laura las keine Bücher mehr, keine Zeitungen oder Zeitschriften. Selbst ihre geliebte Rätselzeitung, die Maximilian weiterhin vom Einkaufen mitbrachte, stapelte sich unberührt auf dem Tisch. Sie sah nicht mehr fern, und wenn sie Radio hörte, dann schaltete sie ab, kaum dass die Nachrichten begonnen hatten oder zwei Sätze am Stück gesprochen waren. Wenn sie aus dem Haus ging, dann nur zur Kirche hinauf, in der sie allein in einer der hinteren Bänke saß, zur Kirche oder zum Strand, wo der libeccio ihr die salzige Gischt in die Augen blies, bis sie zu weinen meinte. Sie schien nur noch in der Vergangenheit zu leben, in der Vergangenheit und in jenem Haus, das ihr in den letzten acht Jahren ein Zuhause geworden war und jetzt wie ein einsames Schiff durch die Zeit trieb. Ein Schiff oder eine Insel, etwas, was sich von der wirklichen Welt gelöst hatte, von der Gegenwart und in das Land der Erinnerungen hinübergeglitten war.
So abwesend sie manchmal wirkte, so gern schien sie mit Maximilian zu sprechen. Meistens war sie es, die das Gespräch begann, und meistens war sie auch diejenige, die es beendete. Dann stand sie auf, streifte seine Hand ab, die sie zurückzuhalten versuchte, schüttelte unmerklich den Kopf und ging in ihr Zimmer, nie ohne die Tür hinter sich abzuschließen.
Es waren keine regelrechten Unterhaltungen. Meistens war sie es, die redete. Maximilian hörte zu, warf etwas ein, stellte Fragen. Wenn er etwas anderes ansprach, von Marietta oder Pierino berichtete, von Stefano oder einem gemeinsamen Bekannten, dann wurde sie still, fast abwesend. Aus gläsernen Augen sah sie durch ihn hindurch, starr, bis er abbrach.
Fast immer ging es um Vieri, oft
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